Wohin treibt die Bundesrepublik?

Aus dem Text:

…. Die Parteien, die keineswegs der Staat sein sollten, machen sich, entzogen dem Volksleben, selber zum Staat….Die Staatsführung liegt in den Händen der Parteienoligarchie….Ihre durch keine Spannung zu anderer Macht eingeschränkte Stellung verführt….die Parteien wollen durch ihre eigenen Leute die Plätze besetzen. Das ist der Lohn für die Parteiarbeit, die Beute des Siegers nach der Wahlschlacht ….

 

Karl Jaspers

Auszug (Kurzzitat) aus: „Wohin treibt die Bundesrepublik?“ (1966) SERIE PIPER 1988

 

Aus den Seiten 128 ff.:

I. Der Strukturwandel der Bundesrepublik: Von der Demokratie zur Parteienoligarchie

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(3) Auf die Frage, ob unser Staat eine Demokratie sei, pflegt die Antwort selbstverständlich zu sein: Ja, eine parlamentarische Demokratie. Das Grundgesetz bezeugt es: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.“ (Artikel 20) Wie aber sieht das in der Realität aus? Die Verfasser des Grundgesetzes scheinen vor dem Volke Furcht gehabt zu haben. Denn dieses Gesetz schränkt die Wirksamkeit des Volkes auf ein Minimum ein. Alle vier Jahre wählt es den Bundestag. Die ihm von den Parteien vorgelegten Listen oder Personen sind schon vorher durch die Parteien gewählt. Der Vorgang dieser verborgenen Vorwahl, die die eigentliche Wahl ist, ist verwickelt; die Namen für die Wahlkreislisten und die Landeslisten werden nicht auf gleiche Weise aufgestellt. Immer aber sind es die Parteigremien, nie das Volk, das an diesem entscheidenden Anfang beteiligt wäre. Man muß Parteimitglied sein, um bei dieser Wahl irgendwo mitwirken und um aufgestellt werden zu können.

Auch wer Parteimitglied ist, hat als solches eine geringe Wirkung bei den Nominierungen. Entscheidend wählt die Parteienhierarchie und Bürokratie. Bei der Aufstellung der Landeslisten hat das Parteimitglied als solches keine Mitwirkung.

Wer wählen will in dem eigentlichen Sinn, daß er von der Nominierung bis zur Endabstimmung beteiligt ist, muß Parteimitglied werden. Wer es nicht wird, kann sich nicht beklagen, daß er über nichts weiter abstimmen kann als über das, was die Parteien ihm vorsetzen. Er wählt die, die schon gewählt sind, und hat nur noch Einfluß auf die Zahl der von der Partei schon Gewählten, die Parlamentsmitglieder werden.

Das Volk hat also nur die sehr beschränkte Wahl zwischen dem, was ihm von den Parteien zur Wahl gestellt wird. Es kann all diese Wahlvorschläge ablehnen. Nach Zufall der Stimmung, politisch gedankenlos, eigentlich ratlos muß es „wählen“.

(4) Die Parteien sind Organe des Volkes. Sie sollen aus dem Volke durch freie Initiative hervorgehen. Der Artikel 21 sagt: „Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit.“ Jedoch: Man kann kaum behaupten, daß in der Bundesrepublik eine politische Willensbildung des Volkes stattfindet. Die Unkenntnis der meisten ist erschreckend groß. Die Parteien informieren und unterrichten das Volk nicht und erziehen es nicht zum Denken. Bei den Wahlen operieren sie nach Prinzipien der Reklametechnik. Ihre Handlungen bedenken die materiellen Interessen von Gruppen, deren Stimmen sie erwerben möchten.

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(5) Aufgabe, Situation und Wirklichkeit der Parlamentarier. Das Volk kann nicht selber mitregieren. Es regieren die von ihm beauftragten Vertreter, die Parlamentarier, die ihrerseits den Kanzler wählen. Die Frage ist erstens, welche Wirkung überhaupt vom Volke ausgeht. Sie ist ungemein gering. Selbst die Wahlen sind keine eigentlichen Wahlen, sondern Akklamation zur Parteienoligarchie. Zweitens ist die Frage, welche Qualitäten die Parlamentarier als Politiker haben sollten und wirklich haben. Das ist von schicksalhafter Bedeutung. Denn sie stellen die Regierung. Sie fassen die entscheidenden Beschlüsse. Sie arbeiten mit durch die Ausschüsse.

Eschenburg hat eine hervorragende Schilderung der Situation des Parlamentariers gegeben. Übermenschliches wird von ihm verlangt. Von überall her kommen an ihn die Forderungen und die Bitten. Er hat die Aufgaben der Propaganda, der Beziehung zu seinen Wählern. Er bedarf der Sachkunde und der Besinnung auf die großen einfachen Linien einer zielbewußten Politik. Aber der Parlamentarier ist keiner Weisung unterworfen. Er ist völlig frei in der Wahl seiner Tätigkeit, in dem, was er jeweils für das Wesentliche hält. Ein herrlicher Beruf für den, der ihm gewachsen ist, ein zerstörender für den, der ihm nicht Genüge leistet!

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(6) Die Parteien wandeln ihren Sinn. Die Richtung der Wandlung ist diese: Sie waren gemeint als Organe des Volkes, das durch sie seinen Willen kundtut und umgekehrt wieder von ihnen politisch erzogen wird. Aber sie werden zu Organen des Staates, der nunmehr wieder als Obrigkeitsstaat die Untertanen beherrscht. Die Parteien, die keineswegs der Staat sein sollten, machen sich, entzogen dem Volksleben, selber zum Staat. Ursprünglich vielfach autonome Bildungen aus der unbegrenzten Freiheit des Volkes, werden sie in ihrem Bewußtsein zu den Machtträgern selber. Der Staat, das sind die Parteien. Die Staatsführung liegt in den Händen der Parteienoligarchie. Sie usurpiert den Staat.

(7) Diese Wandlung wird institutionell ohne Absicht befördert. Bei der Begründung der Bundesrepublik ging der Wille auf die Stabilität der Regierung. Die aktive Teilnahme des gefährlichen Volkes sollte möglichst gering werden. Man konnte es nicht ausschalten, weil man behauptete, eine Demokratie zu wollen. Aber man reduzierte seine Wirkung auf die alle vier Jahre stattfindenden Wahlen. Und man behandelte es bei den Wahlen mit den Propagandamitteln als Stimmvieh, das nur über das Maß der Beteiligung der einzelnen Parteien an der Regierung entscheidet

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Daß die Parteien die einzige politische Macht werden, wandelt ihren Sinn. Ihre durch keine Spannung zu anderer Macht eingeschränkte Stellung verführt. Alleinbesitz der Macht ist verderblich, auch wenn die Form der Gewaltenteilung (Legislative, Exekutive, Justiz) herrscht.

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(9) Die Rolle des Parlaments als maßgebliche Macht wird zweideutig. Einmal maßt es sich etwa Mitwirkung bei Personalfragen an. Dann wieder verzichtet es, wie es scheint, immer mehr auf Kontrolle.

Der Kanzler ernennt seine Minister nach dem Grundgesetz aus eigenem freien Entschluß. In Wirklichkeit nach Beratung mit seiner Partei und der Koalitionspartei, vielleicht sogar so, daß er vor der Kanzlerwahl Verpflichtungen für seine Ministerwahl eingeht. Er könnte nach dem Grundgesetz auch Männer ernennen, die keiner Partei oder gar solche, die der Oppositionspartei angehören, wenn er allein auf Qualifikation sehen würde. Aber das kann er faktisch nicht. Denn die Parteien wollen durch ihre eigenen Leute die Plätze besetzen. Das ist der Lohn für die Parteiarbeit, die Beute des Siegers nach der Wahlschlacht.

Die Kontrolle seitens des Parlaments ist gering. Expertenausschüsse mit Vernehmungsrecht sind nicht wirksam. Schäden, Skandale, sachliche Grundfragen werden nicht auf diesem Wege behandelt, auf dem die Regierung ständig unter Aufsicht stünde oder sich belehren lassen könnte. Wo sie stattfinden, kommen sie eher als Schutzmaßnahmen zur Deckung von Fehlern der Regierung zur Geltung

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Der Sinn der demokratischen Opposition ist die Lebendigkeit der Politik durch Auseinandersetzung, durch Kontrolle, durch Bereitschaft, mit ihren abweichenden Zielsetzungen selber die Verantwortung der Regierung zu übernehmen und sich zu bewähren. Das verpflichtet sie, so zu denken und sich so zu verhalten, daß der sachliche Wille in Zielsetzung und politischer Gesinnung glaubwürdig ist. Regierung und Opposition, obgleich sie im Kampf um die Macht stehen, sind sich befreundet auf dem gemeinsamen Boden des einen Staatsinteresses.

Wenn die Opposition nicht anerkannt wird als produktive Macht und als für den Staat unentbehrlich, dann ist sie nur negativ beurteilter, staatsfeindlicher, daher eigentlich verwerflicher Gegner. Wenn die Opposition keine eigenen, durchdachten und das Denken der Bevölkerung ergreifenden Zielsetzungen und Wege hat dann erscheint sie der herrschenden Partei ähnlich. Es handelt sich für die besiegten Parteileute nicht mehr um eine politisch gewichtige Sache, sondern nur darum, selber an der Regierung Anteil zu gewinnen, gleichgültig wodurch und wie.

Mit der Aufhebung des Spiels der Opposition als unentbehrlichen Faktors der politischen Willensbildung des Staates hört die demokratische Freiheit auf. Denn der politische Kampf im Denken der Bevölkerung hört auf.

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(10) Daß sich keine produktive Opposition, kein auf dem gleichen Boden kämpfendes Zusammenspiel von Regierung und Opposition entwickelt hat, das hat zum Gegenpol die Tendenz zur Bildung der Großen Koalition oder Allparteien-Regierung.

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Es gibt, wie immer in parlamentarischen Demokratien, die Ämterpatronage in großem Umfang. Wie weit sie sich heute schon auf unpolitische Berufe bezieht, läßt sich statistisch nicht ermitteln. Es kommt vor, daß ein Krankenhausarzt, um Chef einer städtischen Klinik zu werden, der Partei beitritt, die in dieser Stadt regiert

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Karl Jaspers, ∗ Oldenburg (Oldenburg) 23. Febr. 1883, † Basel 26. Febr. 1969, dt. Philosoph. – 1916 Prof. für Psychologie in Heidelberg, 1921 für Philosophie in Heidelberg (1935 – 45 Lehrverbot, 1945 wieder eingesetzt), seit 1948 in Basel. – Werke: Psychologie der Weltanschauungen (1919), Die geistige Situation der Zeit (1931), Philosophie (1932), Nietzsche (1936), Descartes (1937), Existenzphilosophie (1938), Von der Wahrheit (1947), Vom Ursprung und Ziel der Geschichte (1949), Schelling (1955), Die großen Philosophen (1957), Die Atombombe und die Zukunft der Menschheit (1958), Hoffnung und Sorge (1965), Wohin treibt die Bundesrepublik? (1966).

Mit seiner Schrift „Wohin treibt die Bundesrepublik“ erntete Karl Jaspers viel Zuspruch, aber auch erbitterte Gegenrede. Er erwiderte in seinem Buch „Antwort„.

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