Lord Justice Sir John Thomas, Richter am Berufungsgericht London, Royal Courts of Justice, Strand, London, WC2A 2LL England:
Einige Perspektiven für Justizverwaltungsräte
Auszug aus einem am 07. November 2008 im Rahmen eines internationalen Symposiums in der Goethe-Universität Frankfurt am Main gehaltenen Vortrag. Der ungekürzte Text ist abgedruckt in der Kritischen Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft (KritV) 2008 Seiten 389 – 39
3. Teil: Modelle justizieller Selbstverwaltung
Sir John Thomas
Einige Perspektiven für Justizverwaltungsräte (Councils for the Judiciary)
I. Einleitende Überlegungen
1. Die Gewaltenteilung
Spricht man von der Dritten Gewalt, müssen wir uns in der Tradition von Montesquieu immer vor Augen halten, dass die Gewaltenteilung zwischen Legislative, Exekutive und Judikative in jedem Mitgliedsstaat des Europarates und der Europäischen Union anerkannt wird. So werden fast überall bestimmte Aufgaben und Funktionen des Staates der Judikative zugewiesen. Diese bestehen in der Aufrechterhaltung der Rechtsstaatlichkeit und in der Verhandlung über Streitigkeiten zwischen dem Staat bzw. der Europäischen Union und einzelnen Bürgern sowie über Streitigkeiten der Bürger untereinander. Die Voraussetzung für eine reibungslose Ausübung dessen ist nach allgemeinem Verständnis, dass die Judikative des Staates und jeder einzelne Richter unabhängig sein müssen. Dieses Privileg der Unabhängigkeit für die Dritte Gewalt dient allein dem Zweck, die beschriebenen Funktionen zu gewährleisten.
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In meinem Herkunftsland verfügen wir über drei unterschiedliche Organisationssysteme der Justiz: in England und Wales, Schottland und Nordirland. Bis vor kurzem waren alle angeführten Aufgaben unter der Kontrolle des Lordkanzlers, der das Oberhaupt der Justiz und zugleich auch Sprecher des Oberhauses unserer Legislative und Mitglied des Kabinetts war Er schien die lebende Verkörperung der Negierung von Gewaltenteilung zu sein, dennoch hatte dieses System aus unterschiedlichen Gründen gut funktioniert. Aber es wurde schon vor einiger Zeit deutlich, dass unsere bisherige Lösung nicht mehr angemessen und eine Reform erforderlich war Zwischen 2003 und 2008 haben wir eine Reihe zentraler Reformen durchgeführt, die bewirkten, dass die Zuständigkeit für die Justizaufgaben grundlegend geändert wurde. Wir haben in jüngerer Zeit auch versucht, die Frage der Rechenschaftspflicht anzugehen. Ich hoffe, dass es hilfreich ist, wenn ich im folgenden die im Vereinigten Königreich gewählte Lösung zur Rolle des Justizverwaltungsrates erläutere. Bei der Durchführung dieser Reformen haben wir maßgeblich von der Unterstützung anderer europäischer Staaten sowie von der Beteiligung am ENCJ profitiert.
II. Spezifische Aufgaben des unabhängigen Justizverwaltungsrates
1. Ernennung, Beförderung und Beurteilung von Richtern
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In England und Wales lag bis zu unseren Reformen die gesamte Kontrolle beim Lordkanzler der nach dem Rat der ältesten Richter handelte. Wir lösten das Problem der öffentlichen Beteiligung dadurch, dass wir die Aufgaben einem unabhängigen Richterwahlausschuss übertrugen, der aus fünf Richtern, zwei Laienrichtern, zwei Angehörigen anderer juristischer Berufe und sechs hochqualifizierten Mitgliedern aus nicht juristischen öffentlichen Bereichen besteht. Die drei >senior judges< werden dabei durch unseren Justizverwaltungsrat ernannt, alle anderen Mitglieder in einer von der Exekutive gänzlich unabhängigen Verfahrensweise. Der Ausschuss führt alle Ernennungen durch, außer die der >senior judges<, d. h. die 42 Mitglieder unseres Berufungsgerichts und die 12 Mitglieder unseres Oberhauses. Zudem gibt es ein besonderes Organ bestehend aus zwei Richtern und zwei Laien, in dem der >senior judge< die entscheidende Stimme hat.
Wie hat diese Struktur nun die von mir angesprochenen fünf Problemkreise bewältigt? Ihre Aufgabe war es, den Einfluss von Justiz und Öffentlichkeit bei der Ernennung von Richtern zu sichern und gleichzeitig jede Möglichkeit der politischen Einflussnahme zu verhindern. Anstatt es den Richtern allein zu überlassen, diejenigen zu ernennen, von denen sie glauben, dass sie am besten geeignet wären, gab diese Wahlmethode der Öffentlichkeit einen angemessenen Einfluss. Dem Problem der Rechenschaftspflicht wird dadurch begegnet, dass der Richterwahlausschuss einen jährlichen Bericht veröffentlicht und zudem der Vorsitzende und sein Stellvertreter der Legislative gegenüber rechenschaftspflichtig sind. Die Interessen des Justizsystems werden geschützt durch ein System von Konsultationen im Vorfeld der Ernennungen. Der Richterwahlausschuss besteht seit nunmehr zwei Jahren. Zwar sind noch geringfügige Verbesserungen bzw. Änderungen vorzunehmen, die allgemeine Ansicht ist aber, dass er recht ordentlich funktioniert.
Der Richterwahlausschuss hat keinerlei Kompetenz bei der Beurteilung von Richtern. Wie in den meisten Ländern bleibt die richterliche Beurteilung gänzlich unter Kontrolle der Judikative. Dies scheint mir grundsätzlich richtig zu sein, da die Beurteilung richterlicher Tätigkeit eine fachspezifische Aufgabe ist und daher einem anderen Richter vorbehalten sein muss und die Öffentlichkeit hierzu ohnehin wenig beitragen könnte. Der Rechenschaftspflicht über richterliche Beurteilungen dürfte durch einen jährlichen Bericht genügt werden.
2. Standesregelungen und Disziplinarrecht
Es ist bedauerlich, dass viele Länder in Europa nicht über Verhaltensvorschriften verfügen. Im Vereinigten Königreich hat der Richterrat von England und Wales7 erst 2002 einen Verhaltenskodex aufgestellt. Dieser ist bedeutsam, da er klare Standards richterlichen Verhaltens aufstellt und die Grundlagen für ein Disziplinarsystem bildet. Seine Verbreitung obliegt der Justiz selbst, jedoch mit angemessener Beratung und Vorkehrungen für Überprüfungen. Ein Justizverwaltungsrat ist offensichtlich die beste Einrichtung für diese Aufgabe.
Die Ausübung der Disziplinargewalt ist dabei ein etwas komplizierteres Problem. Viele sind der Meinung, dass nur ein Gericht oder ein gänzlich von Richtern kontrolliertes Organ (wie z.B. ein Teil des Justizverwaltungsrats) geeignet ist, die Disziplinargewalt auszuüben. So wird argumentiert, dass ‐ ein öffentliches Verfahren und die Veröffentlichung der Urteile vorausgesetzt ‐ nur so für eine ausreichende Rechenschaftspflicht und für die Unabhängigkeit von hierarchischen Justizeinflüssen gesorgt ist. Die Öffentlichkeit spielt hierbei keine Rolle.
In England und Wales haben wir eine andere Lösung gefunden. Die Disziplinarfunktion wird letztendlich gemeinsam durch den Lordoberrichter, dem zweithöchsten Richter hinter dem Lordkanzler, und dem Justizminister ausgeübt. Beschwerden werden dabei an eine Geschäftsstelle geleitet. Wenn es einen Untersuchungsfall gibt, wird die Untersuchung von einem Richter durchgeführt. Wenn der mit der Ermittlung betraute Richter der Meinung ist, dass es etwas zu verhandeln gibt, wird die Angelegenheit an ein unabhängiges Disziplinargericht weitergeleitet, das aus Richtern und Laienvertretern besteht und das Urteil fällt. Das Urteil wird allerdings erst dann rechtskräftig, wenn der Lordoberrichter und der Justizminister zustimmen. Die Urteile sowie ein jährlicher Bericht werden veröffentlicht und an den Justizverwaltungsrat weitergereicht. Diese Lösung wurde primär gewählt, um das öffentliche Vertrauen zu stärken, denn die Justiz soll aus dieser Sicht nicht Richter in eigener Sache sein. Ich glaube jedoch nicht, dass die in England und Wales gewählte Lösung auch für andere Länder geeignet ist, denn ich sehe doch gewichtige Gründe dafür, die Öffentlichkeit an Disziplinarangelegenheiten zu beteiligen, sei es nun durch einen Teil des Justizverwaltungsrats oder sei es durch ein eigens eingerichtetes Organ.
3. Aus‐ und Fortbildung der Richter
Es herrscht allgemeine Übereinstimmung, wenn auch nicht in jedem Staat, dass die Kontrolle der Ausbildung Aufgabe der Justiz ist (durch den Justizverwaltungsrat oder ein anderes Organ), obwohl das eigentlich Aufgabe juristischer Ausbildungsstätten sein müsste. Der Grund versteht sich von selbst: die Entscheidungen über Gegenstände der juristischen Lehre müssen unabhängig getroffen werden, da es ansonsten eine zwar nur mittelbare, aber gänzlich unangemessene Beeinflussung auf die Unabhängigkeit richterlicher Entscheidungen geben kann. Dasselbe gilt für die Rechtsfindung und Gesetzesauslegung der Justiz. Wenn Rechtsstaatlichkeit vorherrschen soll, muss die Justiz das von der Legislative vorgegebene Gesetz anwenden, und zwar ohne Beeinflussung von Außen. Auch die Exekutive ist nichts anderes als Beteiligter an einem Rechtsstreit. Die Regelung der Juristenausbildung ist mithin ein weiteres Problem, das von der Europäischen Union und den nichtjustiziellen europäischen Organen angegangen werden muss.
Verstärkte Bedeutung kommt hierbei der Rechenschaftspflicht zu, da die Ausbildung beträchtliche finanzielle Ressourcen bindet und eine schlechte Ausbildung Richter schafft, die schlechte Urteile fällen. Deshalb ist es unabdingbar, dass sich in dem mit der Ausbildung betrauten Organ Vertreter der Öffentlichkeit, der juristischen Berufe oder Experten befinden, die exakt über die Art der richterlichen
Ausbildung und über die Verwendung der durch die Legislative zur Verfügung gestellten Ressourcen Kenntnis haben und der Öffentlichkeit darüber berichten.
4. Verwaltung und Geschäftsführung der Gerichte
In Europa herrscht zunehmend die Auffassung vor, dass die Gerichtsverwaltung in der Hand eines Organs sein sollte, in dem zumindest substantielle juristische Kompetenz, wenn nicht sogar Kontrolle vorherrschend sein soll. Die Niederlande, Dänemark und Irland sind dieser Entwicklung vorausgeeilt, und einige der neu hinzugekommenen Staaten sind ihnen gefolgt. Man geht davon aus, dass eine gut funktionierende Gerichtsverwaltung, so sie denn über angemessene Ressourcen verfügt, für die Leistung der Dritten Gewalt und die Funktionen von Rechtsprechung wesentlich ist und es hierfür keinen besseren Weg gibt, als Kontrolle und Verantwortung in die selbstverwaltete Justiz zu überführen.
Richter können diese Aufgaben nicht ohne externes Fachwissen bewältigen und unterliegen zudem einer Rechenschaftspflicht gegenüber der Öffentlichkeit. Die zur Verfügung gestellten Mittel und das öffentliche Interesse an der Sicherstellung einer effizienten Verwaltung, die die Justiz stützt, gewähren zugleich, dass öffentliche Beteiligung, externes Fachwissen und Transparenz nicht umgangen werden können.
Im Vereinigen Königreich haben wir dieses Jahr den Aufbau der Gerichtsverwaltung geändert, so dass diese nicht mehr vom Justizministerium kontrolliert wird. Schottland hat ein Modell eingeführt, dass dem von Irland gleicht, wo die Kontrolle grundsätzlich in den Händen der Judikative selbst liegt. In England und Wales ist die Kontrolle gemeinsam der Judikative und dem Ministerium zugewiesen, welches Verwaltungserfahrung hat, wobei ein unabhängiger Vorsitzender beiden vorsteht.
5. Wahrung und Schutz des Ansehens der Justiz
Heutzutage wird von der Judikative zum Schutz des Ansehens der Gerichte gefordert, in einer für die Öffentlichkeit verständlichen Weise Urteile zu erläutern und Richter gegen ungerechtfertigte Kritik durch die Medien in Schutz zu nehmen.
Obwohl ein Richter sein Urteil so erläutern sollte, dass es von der Öffentlichkeit verstanden wird, ist das nicht immer möglich. Ebenfalls ist es nicht möglich, ungerechtfertigte öffentliche Kritik vorherzusehen.
Bis 2004 oblag im Vereinigten Königreich diese Aufgabe dem Lordkanzler Ein Anzeichen für die Notwendigkeit einer Reform war, dass es in einer Zeit, in der die Medien so machtvoll sind, zu einem Konflikt zwischen der Pflicht, Richter vor ungerechtfertigter politischer Kritik zu schützen, und politischen Interessen kam. Die Justiz von England und Wales verfügt heute über ihre eigene Pressestelle. Sie ist damit Ländern, wie bspw. den Niederlanden, gefolgt und schult ihre Richter dergestalt, dass diese in der Lage sind, sich in den Medien so zu präsentieren, dass die Öffentlichkeit in angemessener Weise informiert wird. Wenn die Justiz selbst nicht in der Lage ist, den Medien Informationen und Antworten zu liefern, finden sich
andere, weniger Informierte, die dies zum Schaden der Justiz übernehmen.
III. Zusammenfassung
Jeder einzelne Punkt, den ich angesprochen habe, könnte Gegenstand eines eigenen Vortrags sein und verdient eingehender behandelt zu werden, aber die Zeit erlaubt dies nicht. Unausweichliche Schlussfolgerung ist meiner Meinung nach die Erforderlichkeit eines Justizverwaltungsrates für die Justiz, um die angesprochenen Aufgaben sachgerecht auszuführen und die Unabhängigkeit der Judikative zu gewährleisten. Dieser muss die zentrale Rolle spielen, wenngleich einzelne Aufgaben auch von anderen Organen ausgeführt werden können. Eine echte Alternative hierzu gibt es nicht. Die Judikative des Staates braucht eine zentrale Institution nicht nur für die Bewältigung der Aufgaben, die ich benannt habe bzw. für die Kontrolle, dass andere sie unabhängig ausführen, sondern auch und vor allem, um die Beziehung zu Legislative und Exekutive zu gestalten, umfassende Verantwortung für sachgerechte Abläufe in der Justiz zu übernehmen und insbesondere um eine zügige und unparteiische Rechtsprechung zu geringstmöglichen, mit den Interessen der Gerechtigkeit zu vereinbarenden Kosten zu gewährleisten. Eine Justiz, die über diese Mittel nicht verfügt, wird feststellen, dass andere dies für sie übernehmen. Ohne angemessene und verantwortungsvolle Vorkehrungen für die Kontrolle könnte dies leicht zu großem Schaden für die Justiz führen.
Ein Justizverwaltungsrat wird nicht nur die zentrale Rolle spielen, die ich beschrieben habe, sondern er sollte sich als Leitung und Vertretung der Justiz verstehen und damit die eigene Hierarchie wie auch die Beziehungen zu den Richtervereinigungen ausgewogen gestalten.
Zum Schluss noch ein Wort zur Zusammensetzung des Justizverwaltungsrates. Wenn ein Justizverwaltungsrat die Justiz verwalten soll, so ist seine Zusammensetzung von zentraler Bedeutung. Es gibt große Unterschiede innerhalb Europas. In England und Wales haben wir keine direkten Wahlen in den Justizverwaltungsrat. Jede Ebene der Justiz hat ihre eigene Vereinigung, in der Wahlen stattfinden. Die Vorstände dieser Vereinigungen (oder ihre Delegierten) sind wiederum Mitglieder in unserem Kontrollgremium; der Lordoberrichter ist unser Vorsitzender. Wir haben festgestellt, dass die Auswahl der Vertreter durch die Vereinigungen dazu führt, dass diese mit dem Justizverwaltungsrat eng zusammenarbeiten und ihn grundsätzlich unterstützen. Im Allgemeinen gibt es weder Spannungen zwischen den Vereinigungen und dem Justizverwaltungsrat noch zwischen dem Justizverwaltungsrat und der Justizhierarchie, weil der Lordoberrichter sowohl Präsident aller Gerichte von England und Wales als auch Vorsitzender des Kontrollgremiums ist.