Von der Schwierigkeit einer Teilung der Staatsgewalt
und von Hindernissen, die einer Dreiteilung der Staatsgewalt in Deutschland entgegen wirken
Inhalt:
1. Demokratie und Gewaltenteilung
2. Gewaltenteilung in der deutschen politischen Bildung
3. Gewaltenteilung in realitätsnaher Darstellung
4. Zur Haltung der traditionellen deutschen Staatsrechtswissenschaft
1. Demokratie und Gewaltenteilung
Gewaltentrennung ist keine Lösung des Machtproblems, sondern eine der Voraussetzungen für die Gewaltenteilung. „Teilen“ bedeutet nicht nur „trennen“, sondern auch „miteinander“ teilen. Jedes „miteinander Teilen der Staatsgewalt“ setzt aber voraus, dass überhaupt organisatorisch voneinander unabhängige Staatsgewalten existieren, die kommunizierend mit einander in Verbindung treten können.
James Madison [Die „Federalist Papers“: Streitschrift, Verfassungskommentar und politische Theorie der amerikanischen Verfassungsväter] führte dazu im Jahre 1788 aus:
„Auf welches Mittel sollen wir zurückgreifen, um auch in der Praxis die in der Verfassung festgelegte Teilung der Gewalten zu gewährleisten? Darauf gibt es nur eine Antwort: Da all diese äußeren Maßnahmen sich als unzureichend erwiesen haben, muß der Mangel behoben werden, indem die innere Struktur des Regierungssystems so gestaltet wird, daß dessen konstitutive Elemente durch ihre wechselseitigen Beziehungen selbst zum Mittel werden, den jeweils anderen Teil in seine Schranken zu verweisen.
[……]
Um eine angemessene Grundlage für eine getrennte und spezifische Ausübung der verschiedenen Regierungsgewalten zu schaffen, wie sie bis zu einem gewissen Grad von allen Seiten als wesentlich zur Erhaltung der Freiheit anerkannt wird, muß offensichtlich jede Gewalt einen eigenen Willen haben und also so konstituiert sein, daß die Mitglieder einer Gewalt so wenig wie möglich mit Ernennung oder Wahl der Mitglieder der anderen zu tun haben.
[……]
Aber die wichtigste Sicherung vor einer allmählichen Konzentration der verschiedenen Gewalten in einer Hand besteht darin, den Amtsinhabern der verschiedenen Gewalten die nötigen verfassungsmäßigen Mittel und persönlichen Anreize an die Hand zu geben, Übergriffe der anderen abzuwehren. Die Vorkehrungen für eine Verteidigung müssen in diesem wie in allen anderen Fällen der voraussichtlichen Stärke der Bedrohung entsprechen. Machtstreben muß Machtstreben entgegenwirken.
[……]
Es wirft ein schlechtes Licht auf die menschliche Natur, daß solche Vorkehrungen nötig sind, um einen Mißbrauch der Macht im Staat zu verhindern. Aber wirft nicht die Notwendigkeit der Existenz des Staates schon an sich ein schlechtes Licht auf die menschliche Natur? Wenn die Menschen Engel wären, so brauchten sie keine Regierung. Wenn Engel über die Menschen herrschten, dann bedürfte es weder innerer noch äußerer Kontrollen der Regierenden. Entwirft man jedoch ein Regierungssystem, in dem Menschen über Menschen herrschen, dann besteht die große Schwierigkeit darin: es zuerst zur Herrschaft zu befähigen, und es dann darauf zu verpflichten, sich selbst unter Kontrolle zu halten. Die Abhängigkeit vom Volk ist zweifellos das beste Mittel, staatlicher Macht Schranken zu setzen; aber die Menschheit hat aus Erfahrung gelernt, daß zusätzliche Vorkehrungen nötig sind.“
Eine organisatorische Selbständigkeit der Justiz als Voraussetzung ihrer Verschränkung mit den beiden anderen Staatsgewalten hat es in Deutschland zu keiner Zeit gegeben.
Die Selbständigkeit der Gerichte in Deutschland ist ein Schein, hinter dem eine andere rechtliche und oft auch tatsächliche Wirklichkeit steht. Dieser Schein ist historisch entstanden. Man hat sich an ihn gewöhnt, wie alles Gewordene und Bestehende den Vorteil dieses Bestehens hat, weil das Trägheitsgesetz und die Gewöhnung einer Änderung entgegenstehen.
2. Gewaltenteilung in der deutschen politischen Bildung
„Gewaltenteilung“ ist ein Begriff, den wir aus dem Munde von Lehrern und Politikern gewohnt sind. Es ist ein in Deutschland hochgehaltener Begriff. Dass Deutschland ein gewaltengeteilter Staat ist, steht im Text des Grundgesetzes und wird jungen Menschen schon deshalb täglich als vollendete Tatsache gelehrt – mit Worten und in Bildern.
Bilder sind einprägsamer als Worte. Sie können die Augen öffnen. Sie können aber auch ablenken. Sie können sogar den Blick verstellen.
Beispiel:
(Bild A) Eine Darstellung der Gewaltenteilung in der politischen Bildung des Freistaats Bayern
Bildliches Zitat aus: Mensch und Politik, Sozialkunde Bayern, Klasse 11, Dr. Florian Hartleb u. Christian Raps, Verlag Schroedel 2009
Schärft dieses Bild den Blick auf die Wirklichkeit? Lenkt es von der Realität ab? Verstellt es den Blick?
Das Schaubild beschränkt sich darauf, Staatsorgane abzubilden und eine staatliche Kompetenzaufteilung wiederzugeben. In der Überschrift werden drei Staatsgewalten genannt: Legislative, Exekutive und Judikative. So entsteht bei dem arglosen Betrachter spontan der optische Eindruck von Ausgewogenheit und Machtbalance.
Ob oder inwieweit die dargestellte Kompetenzaufteilung dem Sinn und Zweck des Gewaltenteilungsprinzips tatsächlich genügt, ist nicht erkennbar. Das rechtliche und tatsächliche Ungleichgewicht der Machtverteilung zwischen den Staatsorganen bleibt dem Betrachter verborgen.
Die drei Staatsgewalten schweben frei über einem Organisationsgeflecht. Konkrete Einzelzuordnungen zu Legislative, Exekutive und Judikative sind nicht erkennbar.
Das Schaubild klärt nicht auf. Seine Kopfzeile suggeriert Jugendlichen die organisatorisch tatsächliche Existenz dreier gleichwertiger und nebeneinander stehenden Staatsgewalten.
In Deutschland stehen aber nur Legislative und Exekutive organisatorisch nebeneinander. Die Legislative ist nicht in die Exekutive integriert. Kein deutsches Parlament gehört zum Geschäftsbereich einer Regierung. Bundestag und Bundestagsabgeordnete, Landtage und Landtagsabgeordnete werden nicht von Parlamentsministern verwaltet. Die deutsche Legislativen verwalten sich selbst.
Die deutsche Judikative hingegen ist in die Geschäftsbereiche von Bundes- und Landesregierungen integriert. Gerichte und Richter werden von Regierungsmitgliedern (i.d.R. von Justizministern) verwaltet. Die Justizminister arbeiten in Bund und Ländern unter dem Dach einer Regierung, ihren Mehrheitsentscheidungen ausgesetzt und zur Regierungsloyalität verpflichtet. Die rechtsprechende Gewalt ist in Deutschland der Regierung organisatorisch nachgeordnet.
Die bayerische Grafik verwirrt auch aus anderem Grunde. Die rechtsprechende Gewalt ist nicht nur dem Bundesverfassungsgericht, sondern ist gemäß Art. 92 Grundgesetz allen Richtern anvertraut. 1107 Gerichte und mehr als 20.000 Richter in Deutschland lässt die Grafik unerwähnt. Als Teile der Judikative gibt es sie nicht.
Einst ließ es die Bundeskanzlerin deutlich aussprechen: Die deutschen Gerichte sind der Regierung angeschlossene Behörden. Kindern wurde erklärt:
„…. Wir wählen eine Regierung. Und diese Regierung sowie die ihr angeschlossenen Behörden, von der Polizei bis zur Richterin, sind allein berechtigt, Gewalt auszuüben ….“
(http://www.bundeskanzlerin.de/Webs/BK/DE/Fuer-Kinder/Gewaltenteilung/gewaltenteilung.html – Stand 15.09.2007)
Der Deutsche Bundestag hingegen trägt zur allgemeinen Verwirrung bei. Über das „Prinzip der Gewaltenteilung“ wird aufgeklärt:
„Die staatliche Gewalt ist in mehrere Gewalten aufgeteilt: Die legislative (gesetzgebende), die exekutive (vollziehende) und die judikative (Recht sprechende) Gewalt sollen sich gegenseitig kontrollieren und staatliche Macht begrenzen.“
https://www.bundestag.de/bundestag/aufgaben/rechtsgrundlagen/gewaltenteilung/246408 (Stand 07.07.2014)
Diese Formulierung suggeriert die reale Existenz dreier Staatsgewalten und damit einen organisatorischen Zustand, der in Deutschland zu keiner Zeit verwirklicht worden ist.
Allein das Bundesverfassungsgericht verwaltet sich selbst. Nach seiner Konstituierung hatte selbst dieses Gericht um seinen von der Regierungsgewalt unabhängigen Status zu kämpfen. Das Gericht, so eine verbreitete Argumentation, bedürfe zu seiner demokratischen Legitimation der Aufsicht durch ein Organ der Bundesregierung. In einer Denkschrift (Jahrbuch des öffentlichen Rechts »JöR« Band 6, 1957, Seiten 144 ff.) forderte das Bundesverfassungsgericht organisatorische Unabhängigkeit, einen eigenen Etat und für seine Richter einen besonderen Amtsstatus. Im Blickfeld großer Öffentlichkeit wurden diese berechtigten Forderungen schließlich erfüllt.
Fazit: Die deutsche Staatsorganisation kennt keine organisatorische Dreiteilung der Staatsgewalt. Deshalb wird eine solche auch nicht auf Schaubildern dargestellt.
Der Beitrag der Staatsrechtswissenschaft zur deutschen politischen Bildung wird nachstehend beschrieben.
3. Gewaltenteilung in realitätsnaher Darstellung
Der Blick auf die reale Staatsorganisation anderer Länder bringt eine gedankliche Klarheit, die das bayerische Schaubild vermissen lässt.
Die italienische Staatsorganisation ist dreigeteilt:
Italien hat nach dem Ende der faschistischen Diktatur im Jahre 1947 zweierlei unternommen.
Es hat
- sich im Verfassungswortlaut für eine rechtliche Dreiteilung der Staatsgewalt entschieden und anschließend
- in einem zweiten Schritt diese drei Gewalten durch eine tatsächliche Veränderung des Staatsaufbaus auf drei verschiedene, einander gleichgeordnete Träger verteilt.
Diese drei gleichrangigen Machtträger sind: Das Parlament [LEGISLATIVE], die Regierung [EXEKUTIVE] und die Rechtsprechung [JUDIKATIVE]. Das italienische Parlament wählt sowohl die Spitze der Exekutive [Regierungschef] als auch – zu einem Teil – die Spitze der Judikative [Consiglio Superiore della Magistratura – Oberster Richterrat]. Der Oberste Richterrat besteht aus dem Präsidenten der Republik, der den Vorsitz führt, dem Präsidenten des Kassationsgerichts, dem Generalstaatsanwalt beim Kassationsgericht, 20 von den Richtern und Staatsanwälten aus den eigenen Reihen gewählten und 10 vom Parlament aus den Reihen der Hochschullehrer der Rechtswissenschaft und der Anwälte nach fünfzehn Berufsjahren gewählten Mitgliedern.
Art. 105 der italienischen Verfassung (vom 27.12.1947) übertrug diesem Gremium die Anstellung und Beförderung von Richtern und Staatsanwälten sowie die Zuständigkeit für dienststrafrechtliche Maßnahmen. Damit sollen auch indirekte Formen der Einflussnahme des Justizministers auf Richter und Staatsanwälte verhindert werden.
So ist es der unabhängigen italienischen Justiz möglich, unbeeinflusst durch eine andere Staatsgewalt strafbarer Handlungen verdächtige Politiker zu belangen – selbst den Justizminister oder den Regierungschef.
Im Unterschied dazu können die Justizminister mancher anderer Staaten die ihnen unterstellten Staatsanwälte anweisen, ein der Regierungspartei lästiges Strafverfahren einzustellen und in einem System von Belohnung (Beförderung) und Bestrafung (Nichtbeförderung) für ein angepasstes Verhalten und für eine ihnen genehme Personalauslese sorgen.
Die ganz überwiegende Zahl der Mitgliedsländer der Europäischen Union hat sich – mit eigenen Modifaktionen – an dem italienischen Vorbild orientiert.
Kein neues Mitgliedsland der Europäischen Union hat jemals das deutsche Justizsystem übernommen.
Das Grundgesetz nennt ebenso wie die italienische Verfassung drei Staatsgewalten. Im Unterschied zu Italien hat aber eine tatsächliche organisatorische Verteilung der Staatsgewalt auf drei voneinander organisatorisch unabhängige Träger nicht stattgefunden.
Der deutsche Staat (Bund und Länder) ist organisatorisch nur zweigeteilt:
In Deutschland entscheiden die Justizminister über Auswahl, Anstellung und Beförderung von Richtern – zumeist allein, selten in einer für sie je nach Bundesland mehr oder weniger verbindlichen Zusammenarbeit mit Mitwirkungsgremien. In Deutschland führen Minister die oberste Dienstaufsicht über die Richterinnen und Richter.
In Deutschland unterstehen die Richter der Aufsicht von Regierungsbeamten. Diese sitzen nicht nur im Ministerium. Auch die Gerichtspräsidenten sind in ihrer Eigenschaft als Präsidenten Regierungsbeamte. Sie sind Ministerialbeamte im Außendienst.
Wenn sich der Präsident eines Amtsgerichts eine Robe anzieht und in den Gerichtssaal eilt, um dort eine Gerichtsverhandlung abzuhalten, ist er ein schlichter Amtsrichter, ein Gleicher unter Gleichen in seiner Kollegenschaft. Hinter dem Schreibtisch in seinem mit Vorzimmerdame bewehrten Präsidentenzimmer ist er Regierungsbeamter, den Weisungen des Ministeriums unterworfen wie jeder andere Beamte. Wenn er den Richtern Dienstzeugnisse schreibt, beurteilt er sie nach den Richtlinien seines Ministers, wenn er Fragen von Journalisten nach den Zuständen an seinem Gericht beantwortet, gibt er die Meinung seines Ministers wieder.
Die im Jahre 1877 (Reichsjustizgesetze) strukturell eingerichtete Vormundschaft der Exekutive über die in Angelegenheiten der Justiz sprachlos gehaltenen Richterinnen und Richter ist im heutigen (West- und Mittel-) Europa eine deutsche Besonderheit. Man hat ihr einen neuen Namen gegeben: „Gewaltenverschränkung“..
In Deutschland wurden aber keine drei Staatsgewalten miteinander „verschränkt“; es hätte sie erst einmal geben müssen. Die deutsche Justiz war im kaiserlichen Obrigkeitsstaat ein Teil des Geschäftsbereichs der Regierung und sie ist es geblieben. Nach 1918 wie vor 1918. Nach 1945 wie vor 1945. Nach 1949 wie vor 1949. Bis zum heutigen Tage.
In Deutschland sind auch die Staatsanwälte den Weisungen der Justizminister unterworfen. Justizminister sind Politiker einer Regierungspartei.
Die Regierungspartei (oder Parteienkoalition) stellt die Mehrheit im Parlament. Die Parteiführung hat Macht über ihre Abgeordneten. Sie stellt die Regierung und beherrscht damit die Exekutive. Über die Exekutive beherrscht sie auch die Judikative:
4. Zur Haltung der traditionellen deutschen Staatsrechtswissenschaft
Wie vorstehend in den Bildern C und D dargestellt, ist die rechtsprechende Gewalt in Deutschland nicht organisatorisch selbständig, sondern Teil der Exekutive. Dies führt zu Gefahren für die innere Unabhängigkeit der Richter. Denn jeder deutsche Richter weiss, dass seine Karriere davon abhängt, ob sein Verhalten dem Minister gefällt.
Die deutschen Regierungen können Richter für ihr konkretes Verhalten belohnen oder die Belohnung versagen. Damit haben sie Macht über die Richter. „Wer befördert, befiehlt“ (Theodor Eschenburg).
Das Entstehen einer psychischen und sozialen Abhängigkeit von Richtern wird in anderen Ländern gesehen, und vermieden durch einen Staatsaufbau, der Beeinflussungen der Richter durch die Regierung von vornherein unmöglich macht (vgl. oben Bild B).
In Deutschland sieht man das anders. Hier wird an schon den Universitäten gelehrt, dass die richterliche Unabhängigkeit durch die Integration der Justiz in die Exekutive (Bild D) nicht gefährdet sei. Die psychosoziale Problematik wird verschwiegen.
Aus dem Munde eines Juristen ist dies nichts anderes als die suggestive Unterstellung eines tatsächlichen Sachverhalts, zu dessen Beurteilung er nicht ausgebildet ist.
Die rechtswissenschaftliche Ausbildung qualifiziert nicht zu naturwissenschaftlichen oder gesellschaftswissenschaftlichen Aussagen von Relevanz. Das konkrete Ausmaß einer Gefährdung der inneren Unabhängigkeit von Richtern durch eine vorhandene Staatsstruktur ist keine Rechtsfrage, sondern eine Tatsachenfrage. Hier geht es um reale Menschen in einem Abhängigkeitsverhältnis und um psychosoziale Verhaltensmuster. Es geht um psychologische, neurologische und soziologische Fragestellungen.
Fachwissenschaftlich nicht qualifizierte Unterstellungen deutscher Staatsrechtslehrer segnen die in Deutschland vorhandenen Machtstrukturen (vorstehend Bild D) ab. Die Unterstellungen bleiben nicht ohne Ausstrahlung auf den Gemeinschaftskundeunterricht in den Schulen. Sie ignorieren das zentrale Motiv des Gewaltenteilungsprinzips.
Das Gewaltenteilungsprinzip Montesquieus findet sein Motiv außerhalb des Rechts – im biologischen und sozialen Bereich, in der menschlichen Natur selbst. Der Befund Montesquieus wird prima facie durch die Menschheitsgeschichte bestätigt.
Eine fachwissenschaftlich (humanwissenschaftlich, soziologisch) qualifizierte Widerlegung des dem Gewaltenteilungsprinzip zu Grunde liegenden Befundes Montesquieus über die Natur des Menschen im Umgang mit Macht ist nicht bekannt. Auch nicht eine humanwissenschaftlich und soziologisch qualifizierte Erforschung des realen Ausmaßes der Gefahren für die richterliche Unabhängigkeit, die von Regierungen drohen, wenn sie die Personalhoheit über die Richter innehaben (Bilder C und D).
Ohne eine tatsächliche Erforschung von psychischen und sozialen Sachverhalten behaupten und unterstellen deutsche Staatsrechtslehrer stillschweigend, dass die organisatorische Integration der Judikative in die Exekutive (Bilder C und D) gesellschaftlich hinnehmbar sei. Das Schlussfolgern ohne abgesicherte Tatsachengrundlage hat System.
Deutsche Staatsrechtslehrer verstehen das positive Recht als einen autonomen Kosmos von geltenden Normen, der von einer als nicht-empirische Disziplin aufgefassten reinen Jurisprudenz kognitiv erfasst werden soll. Dabei unterwerfen sie sich einem Offenbarungsmodell der Erkenntnis, dem zufolge es darauf ankommt, die Wahrheit aus den Verlautbarungen von Instanzen zu entnehmen, die mit unbezweifelbarer Autorität für die Lösung der betreffenden Probleme ausgestattet sind.¹ Die Autoritäten suchen und finden sie in ihren eigenen Reihen.
Deutsche Staatsrechtswissenschaftler arbeiten empiriefrei. Sie nehmen keine gutachterliche Hilfe der Human- und Gesellschaftswissenschaften in Anspruch. Statt dessen rechtfertigen sie ihre Schlussfolgerungen durch wechselseitige Bezugnahmen auf ihre theoretischen Schriften. Die unter ihnen „herrschende Meinung“ dient in der juristischen Ausbildung und vielfach auch in Rechtsprechung und Politik als Wahrheitssurrogat.
Die „herrschende Meinung“ in der deutschen Jurisprudenz suggeriert, dass im Verhältnis zwischen Regierungen und Richtern Theodor Eschenburgs Erkenntnis: „Wer befördert, befiehlt“ keine Geltung habe. Endet die menschliche Fehlbarkeit mit der Ernennung zum Richter?
Die humanwissenschaftliche Unterstellung durch fachfremde Autoritäten ist nicht ungefährlich.
Udo Hochschild
¹ So der Philosoph und Soziologe Hans Albert, der hierin eine der wesentlichen Gemeinsamkeiten zwischen Jurisprudenz und Theologie erblickt (Die Jurisprudenz im Lichte des Kritizismus in: Hans Albert Lesebuch, Abschnitt Erkenntnis und Recht (S. 243 u. 250), UTB, Tübingen, 2001).