Im Namen der Eile

VON CONSTANTIN VAN LIJNDEN

Die deutsche Justiz wird dazu gedrängt, immer schneller zu urteilen. Ein Richter, der sich dem Druck widersetzt, bekommt richtig Ärger

Veröffentlicht in DIE ZEIT N° 6 vom 04.02.2016 auf Seite 10

Die Mutter der Wahrheit und der Gerechtigkeit ist die Zeit«, sagt Wolfgang Nešković, »leider gilt Gerechtigkeit zurzeit als Ware.« Sein Fazit nach 27 Jahren im Richteramt und acht weiteren im Bundestag ist ernüchternd: »Wahrnehmung und Selbstverständnis der Justiz haben sich zum Schlechteren gewandelt; sie ist nicht länger Erforscherin von Geist und Gesetz, sondern Fabrikantin eines Massenprodukts namens Recht. Oft geht Geschwindigkeit vor Gerechtigkeit, denn sie bestimmt immer stärker Ein- und Aufstiegschancen der Richter.« Nešković’ Urteil hat Gewicht: Als früherer Bundesrichter und späteres Mitglied jener Ausschüsse, die über Berufungen zum Bundesgerichtshof und Bundesverfassungsgericht befinden, lernte er die Beförderungskriterien der Justiz von beiden Seiten des Schreibtischs aus kennen.

Das Effizienzdiktat entspricht dem Zeitgeist und hat die Messbarkeit auf seiner Seite. Die Zahl der jährlichen Entscheidungen eines Richters lässt sich problemlos erheben, die Qualität dieser Entscheidungen hingegen nur mühevoll und näherungsweise. Den Laien kümmert das nicht weiter: Kriegt er recht, ist ihm vom durchdachtesten Urteil bis zum Münzwurf alles billig, verliert er aber, wähnt er sich in einem Unrechtssystem. Ob eine Entscheidung richtig und gerecht ist, und wie viel richtiger und gerechter sie mit mehr Sorgfalt hätte werden können, kann er mangels Fachkunde gar nicht erkennen. Allerdings bleibt nach einer Niederlage oft das dumpfe Gefühl, nicht ernst genommen worden zu sein. Setzt es sich durch, folgt Populismus nach Art des Ex-Ministers Norbert Blüm, der mit seinem Bestseller Einspruch! gegen die »Willkür« der Justiz polemisiert.

Weil der »Kunde« es nicht gleich merkt, kann am Personal der Justiz viel leichter gespart werden als bei anderen Dienstleistern. Striche etwa die Deutsche Bahn ihre Lokführerstellen um 30 Prozent, wären die Ursache (Personalmangel), die Wirkung (Züge fallen aus) und ihr Zusammenhang für den dümmsten ohne Weiteres durchschaubar. Doch anders als beim Lokführer, der den Zug nicht einfach 30 Prozent schneller durch die Landschaft jagen darf, kann der Richter durchaus 30 Prozent schneller entscheiden. Ähnlich wie bei Journalisten, Ärzten und anderen, deren Arbeit besser oder schlechter, gründlicher oder zügiger erledigt werden kann, bietet sich ihm ein weiter Spielraum. Doch anders als bei den Genannten, die auf schlechten Texten sitzen bleiben oder bei falschen Diagnosen in ein leeres Wartezimmer blicken, fehlt dem Richter der Markt als Korrektiv. Er kann für gründlichere Urteile kein Honorar verlangen und auch kein Konkurrenzgericht an der Ecke aufmachen. Das hat naheliegende und überzeugende Gründe, doch die Entkopplung der Nachfrage des Bürgers vom Angebot des Staates bringt auch Probleme mit sich.

Am oberen Ende der Streitwerttabelle führt sie zur Flucht in private Alternativen: Großkonzerne fügen ihren Verträgen häufig eine Klausel an, wonach mögliche spätere Konflikte nicht durch staatliche Gerichte beizulegen seien, sondern durch mit Top-Juristen besetzte Schiedsgerichte. Die übrigen 99,99 Prozent der Fälle, in denen so ein Vorgehen weder praktikabel noch bezahlbar ist, fallen der Justiz anheim. Ihre Zahl ist seit dem Jahr 2000 zwar gesunken, doch ihre Komplexität ist gestiegen. »Besonders einfach gelagerte Sachverhalte werden inzwischen häufig durch Schlichtungsstellen erledigt und fallen aus der Statistik. Die verbleibenden Streitigkeiten spiegeln dafür umso mehr die steigende Komplexität jener Welt, die sie hervorbringt. Entsprechend aufwendig sind sie zu lösen«, sagt Ruben Franzen von der Neuen Richtervereinigung. Auch deshalb ist die Zahl der oft hoch spezialisierten Rechtsanwälte in den vergangenen 16 Jahren von etwa 100 000 auf 160 000 gewachsen. Da die Anzahl der Richter und Staatsanwälte mit 20 000 und 5000 Personen im selben Zeitraum unverändert blieb, ist es wenig verblüffend, dass bei einer Umfrage im Jahr 2014 mehr als zwei Drittel erklärten, sie hätten zu wenig Zeit für die Bearbeitung ihrer Fälle. 72 Prozent der Befragten fanden, die Rahmenbedingungen für gute Rechtsprechung hätten sich verschlechtert.

Für die Justizminister, die diese Rahmenbedingungen gemeinsam mit den Parlamenten herstellen, ist das offenbar kein Grund zur Sorge. Die Personalfrage haben sie ohnehin ausgelagert, namentlich an die Beratungsgesellschaft PricewaterhouseCoopers, die hierzu 2005 das Personalbedarfsberechnungssystem »Pebb§y« (sprich: Pebbsi) schuf. Mittels der von Pebb§y bestimmten Durchschnittsdauer einzelner Verfahrenstypen – 35 Minuten für einen Strafbefehl am Amtsgericht, 443 Minuten für eine Mietstreitigkeit am Landgericht – und einer Schätzung der Neueingänge wird das Kontingent an Richterstellen festgelegt. Da die Kalkulation darauf abzielt, den Status quo zu wahren, enttäuscht sie natürlich jeden, der mit ihm unzufrieden ist. Hinter den von Pebb§y errechneten Stellen bleiben Bund und Länder zudem meist mehrere Prozentpunkte zurück – teils zur Schonung des Haushalts (Richter und Staatsanwälte schlagen mit 1,5 Prozent zu Buche), teils weil es an geeigneten Bewerbern fehlt, seit die Arbeitszeiten bei Gericht sich den mörderischen Verhältnissen der Großkanzleien nähern, während die Gehälter sich auseinanderentwickeln.

Wer dennoch den Richterdienst wählt, lernt in der (bis zu fünfjährigen) Probezeit gleich zwei der wichtigsten Begriffe kennen: »Arbeitsverdichtung« und »Entscheidungsfreude«. Viel Freude machen ihre Entscheidungen den Richtern allerdings nicht: Die hinter vorgehaltener Hand geäußerten Klagen über das Abwägen von Erfolg und Ethik sind ohne Zahl. Mehrfach wurden in den letzten Jahren Brandbriefe von Richtern veröffentlicht, von denen einige sogar ihr Amt niedergelegt hatten: Die Parteien würden in Vergleiche gedrängt, Haftstrafen weggedealt, lästige Vorträge ohne Ankündigung als »unsubstanziiert« abgetan, fremde Urteile zu (vermeintlich) identischen Konstellationen ungeprüft übernommen, von Amts wegen gebotene Ermittlungen unterlassen, und auch sonst werde an der Qualität gespart. Andernfalls sei das Soll kaum zu erreichen.

Gelegentlich gerät ein derart »effizient verdichtetes« Verfahren in den Blick der Medien, es folgt die ritualisierte Bestürzung: Wie konnte die Justiz einen Gustl Mollath, Ulvi Kulac oder Harry Wörz so offenkundig grundlos wegsperren? Wie kann es sein, dass Manager erfolgreich mit Prozessverschleppung drohen, um knappe Geständnisse gegen milde Strafen zu tauschen, oder dem Staat die Anklage für teures Geld gleich ganz abkaufen? Und wann dürfen wir die nächste Sondersendung über jugendliche Intensivtäter erwarten, die zwanzig oder mehr ermittelte Delikte ansammeln, bevor sich die Justiz zur ersten Verurteilung aufrafft?

Wohlgemerkt – nicht jedem Justizskandal liegt ein Zeit- oder Stellenmangel zugrunde. Umgekehrt aber kommt auf die wenigen Fälle, die es in die Medien schaffen, eine unüberschaubar große Zahl von Entscheidungen, die vielleicht nicht skandalös sind, wohl aber dürftig bis falsch. Für die Betroffenen können sie ein Ärgernis bedeuten – oder eine Tragödie.

Auf gesetzlicher Ebene verhält es sich ähnlich: Einleuchtende und kluge Reformen des Prozessrechts – wie die lang geforderte Protokollierung der Hauptverhandlung oder die Aktenlektüre aller am Beschluss beteiligten Bundesrichter in Strafsachen – werden abgetan mit der Bemerkung, sie führten womöglich zu gerechteren Entscheidungen, aber eben auch zu mehr Arbeit. Umgekehrt wurden in den vergangenen Jahren diverse Verkürzungen des prozessualen Rechtsschutzes ohne größeren Widerstand durchgesetzt, darunter höhere Hürden für Rechtsmittel, möglicher Verzicht auf wesentliche Urteilspassagen oder die fortschreitende Verdrängung dreiköpfiger Kammerverfahren durch den Einzelrichter. Die wohl bekannteste Neuerung im Sinne einer »modernen« Justiz ist der Paragraf 257 c der Strafprozessordnung, mit dem 2009 der sogenannte Deal im Strafverfahren legalisiert worden ist. Inzwischen hat die Praxis alle Befürchtungen der Theorie überholt: In einer Umfrage unter 330 Richtern, Staatsanwälten und Strafverteidigern erklärten 2012 über die Hälfte der Richter, den Paragrafen 257 c so freudig zu gebrauchen, dass sie sich regelmäßig über seine Bedingungen und Grenzen hinwegsetzten. Dieser Paragraf, der also die tägliche Rechtsbeugung adelt, wurde danach weder aufgehoben, noch folgten an den befragten Gerichten interne Ermittlungen, im Gegenteil: Mancher Strafrichter wurde wegen zügiger Erledigung seiner Sachen vom Gerichtspräsidenten für höhere Ämter empfohlen.

All diesen Erkenntnissen zum Trotz sind »gute Zahlen« Pflicht für Neulinge, die auf Übernahme hoffen, und für Eingesessene, die befördert werden wollen. Doch selbst wer schon Richter auf Lebenszeit und ohne Aufstiegsambitionen ist, wird vielleicht bald nicht mehr in Ruhe entscheiden können. Anlass zu Befürchtungen liefert der Fall eines Richters am Oberlandesgericht namens Thomas Schulte-Kellinghaus, der sich – nach Niederlagen in den Vorinstanzen – derzeit am Bundesgerichtshof gegen eine Ermahnung durch seine frühere Gerichtspräsidentin Christine Hügel wehrt. Diese hatte 2011 in einer Sonderprüfung das Dezernat des Richters durchforsten lassen und ihn danach dringend aufgefordert, seine bis zu 32 Prozent unter dem Durchschnitt liegende »Erledigungsrate« zu steigern. Weigert er sich, könnte ein Verfahren zur Amtsenthebung folgen. »So weit wird es nicht kommen«, meint Carsten Schütz, Direktor des Sozialgerichts Fulda, der den Prozess seit Anbeginn verfolgt. »Aber die bloße Drohung und der soziale Druck in der hierarchisch denkenden Richterschaft dürften in den meisten Fällen schon reichen.« Das Verfahren habe Symbolcharakter: »Das Vorgehen von Frau Hügel ist einzigartig. Segnet der Bundesgerichtshof es ab, stehen gewiss weitere Gerichtspräsidenten bereit, um im eigenen Haus die Zügel anzuziehen.«

In dem Streit geht es nicht bloß um Spielräume bei der Arbeitsgestaltung einer Berufsgruppe, sondern um Grundfragen der Gewaltenteilung. Denn Gerichtspräsidenten wie Christine Hügel unterstehen den Justizministern der Länder oder des Bundes und zählen daher zur Exekutive, die in Deutschland erheblichen Einfluss auf die Justiz genießt. Staatsanwälten darf sie sogar in Sachentscheidungen hineinregieren (wie aus den 2015 auf Wink von Bundesjustizminister Heiko Maas eingestellten netzpolitik.org-Ermittlungen erinnerlich ist). Gegenüber der Richterschaft aber muss sich die zweite Gewalt zurückhalten, was den Inhalt und das Zustandekommen von Urteilen angeht. »Die Weisung, zur Zeitersparnis beispielsweise weniger Beweisaufnahmen oder mündliche Verhandlungstermine durchzuführen, wäre eindeutig rechts- und verfassungswidrig«, erklärt Fabian Wittreck, Professor an der Uni Münster, der als einer von wenigen Staatsrechtlern zur Justizorganisation forscht. Die Maßnahme der Präsidentin nennt er »perfide und perplex«, weil sie einen Eingriff in die Unabhängigkeit darstelle, ohne diesen zuzugeben. Denn »niemand – auch nicht Frau Hügel – behauptet, Herr Schulte-Kellinghaus arbeite zu wenig oder sei seinem Amt nicht gewachsen; die Zahl seiner in Fachzeitschriften veröffentlichten Entscheidungen legt eher das Gegenteil nahe. Wenn er aber bereits mehr leistet, als er schuldig ist, kann er eine weitere Steigerung seiner Erledigungen nur durch eine oberflächlichere Arbeitsweise erreichen – also durch das, was die Präsidentin nicht von ihm verlangen darf.«

Wer mit Schulte-Kellinghaus selber spricht, kriegt zu seiner Zurechtweisung noch manches mehr zu hören: Die Präsidentin habe seine Arbeitsweise und seine Zahlen seit Jahren genau gekannt, sie zuvor jedoch nie moniert. Mit der überraschenden Sonderprüfung im Sommer 2011 habe sie ihn unter Druck setzen und in der Kollegenschaft als Außenseiter hinstellen wollen, wobei der Justizminister ihr den Rücken stärke.

Die Methode macht sich bewährt, Schulte-Kellinghaus hat einen schweren Stand. Die richterlichen Berufsverbände äußern sich zwar wohlwollend zu seinem Anliegen, doch am Oberlandesgericht ist die Stimmung frostig. Wenig verwunderlich: Erledigt ein Richter weniger Fälle, als ihm zugeteilt werden, haben Kollegen die Sorge, dass die Entscheidungen an ihnen hängen bleiben – daher kann der Gewissenhafte mit Dank kaum rechnen.

Die knappe Zeit sei jedoch nicht sein Problem, meint Schulte-Kellinghaus. Als Richter sei er allein dem Gesetz und dem eigenen Gewissen verpflichtet, nicht der Finanzplanung des Landes. Natürlich gebe es auch Richter, die ganz einfach faul seien, aber: »Die haben mit ihren Zahlen gerade keine Probleme. Ein Gerichtsverfahren ist ein Prozess, der Zeit kosten muss für ein sorgfältiges Aktenstudium, für die Gewährung rechtlichen Gehörs, für Hinweise an die Parteien, für das Prüfen vielfältiger Rechtsfragen und für ein gewissenhaftes Abwägen von Argumenten und alternativen Lösungswegen. Das alles könnte ich abkürzen und den Durchschnitt ohne Schwierigkeiten erreichen oder übertreffen. Der Rechtsgewährungsanspruch der Parteien wäre damit allerdings nicht erfüllt.«

Diese Haltung fördere nicht den Respekt der Richterkollegen, die seine Arbeitsweise als Kritik der eigenen empfinden. »Ich arbeite, wie ich es nach meinem Gewissen für richtig halte. Aber es liegt mir fern, meine Art irgendjemandem aufzudrängen.« Das Beschreiten der knappen Lösungswege sei von der richterlichen Unabhängigkeit ebenso geschützt wie ihr Gegenteil. »Allerdings haben viele Kollegen den Erledigungsdruck so verinnerlicht, dass sie die Methoden seiner Bewältigung nicht mehr reflektieren«, meint Schulte-Kellinghaus. Die Debatte, die das Verfahren losgetreten hat, sei zwar nicht sein Ziel gewesen, stelle aber für den Rechtsstaat einen wichtigen Nebeneffekt dar.

Solange die Exekutive tausend Hände hat, um ihren Sparkurs durchzusetzen, scheint ein Sieg in weiter Ferne. Seinen Einfluss auf die Judikative brachte der preußische Justizminister Adolf Leonhardt schon im 19. Jahrhundert zum Ausdruck: »Solange ich über die Beförderungen bestimme, bin ich gern bereit, den Richtern ihre sogenannte Unabhängigkeit zu konzedieren.« So viel Ehrlichkeit wünschte man sich von Leonhardts aktuellem baden-württembergischen Amtskollegen Rainer Stickelberger. Von ihm erhielt die ZEIT jedoch keine Stellungnahme.

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