Für eine Reform der Dritten Gewalt

Aus dem Text:

„…. Menge pro Zeit. Das ist ein Begriff von Effizienz, der mit den Aufgaben der Justiz nur am Rande zu tun hat und der deshalb, sollte er sich als zentral durchsetzen, zu verzerrter Wahrnehmung und verheerenden Fehlurteilen führen wird ….“

 

Aus der Deutschen Richterzeitung (Organ des Deutschen Richterbundes – Carl Heymanns Verlag), Jahrgang 1998, Seite 391 ff. (Kurzzitat):

Richter des Bundesverfassungsgerichts Prof. Dr. Winfried Hassemer

Für eine Reform der Dritten Gewalt

…. jeder Justizminister, der zuvor in an deren Bereichen der Regierungstätigkeit sozialisiert worden ist, wird die schmerzliche Überraschung erleben, daß die Dritte Gewalt, ganz anders als etwa die Umwelt-, Gesundheits- oder Wirtschaftsverwaltungen ein besonders zäher und sperriger Gegenstand ist: Nicht nur daß hier die weithin fixen Personal- und Sachkosten auch bescheidenen Veränderungswünschen schnell einen Riegel vorschieben; es ist vor allem das Selbstbewußtsein der Richterinnen und Richter, welches zur exekutiven Weltanschauung quer liegt: Die Lenkungsfähigkeit der Justiz ist spezifisch reduziert; sie gleicht einem Großtanker, dessen Kapitän – wenn es überhaupt einen gibt ‚ jedenfalls keine Steuerungsinstrumente zur Verfügung stehen. Rufen kann er, raten auch, ein wenig bremsen bisweilen, aber lenken kann er nicht und soll es auch nicht wollen dürfen.

Was nicht nur jedem Seefahrer absurd klingt, ist freilich kein Verhängnis, sondern ein Gebot der Verfassung. Daß das Schiff der Dritten Gewalt von der Zweiten Gewalt nicht gesteuert werden kann, soll so sein (und muß so bleiben). Es ist zwingende Konsequenz des Fundamentalprinzips der richterlichen Unabhängigkeit (27), und deshalb meine ich im Ergebnis auch nicht, daß man der Justiz heute den Vorwurf der Unbeweglichkeit machen dürfte.

Gewiß gibt es Gründe zu klagen, daß der justitielle Apparat zu schwerfällig ist, daß die Juristen von Ausbildung, Praxis und Denkweise her nicht zur intellektuellen Speerspitze der jeweiligen Moderne gehören, daß manche Prozesse in Staat, Gesellschaft und menschlichem Alltag ohne Beteiligung von Juristen in jeder Hinsicht besser laufen würden, und gewiß gibt es Anlaß, diese Gründe sorgfältig aufzuklären und Abhilfe zu schaffen. Es ist aber nicht wahr, daß Schwerfälligkeit und Unbeweglichkeit diejenigen Eigenschaften wären, welche den Zustand der Dritten Gewalt heute verläßlich kennzeichnen könnten – im Gegenteil: Die Justiz hat sogar explizit die Aufgabe, im Parallelogramm der Staatsgewalten zu neutralisieren, zu hemmen, zu bremsen. Gerade in einer auf Effektivität, Intervention und Krisenbewältigung konzentrierten Zeit wie der unsrigen bedarf es einer Instanz, welche die Ziele und die Mittel der exekutiven Veränderungen an unseren normativen Traditionen kritisch prüft, auf mögliche Rechtsverletzungen achtet und sie notfalls vermindert oder verhindert. So gesehen, würde eine „bewegliche“ Justiz die sich dem sozialen Wandel jeweils distanz- und gedankenlos anpaßt, eher Anlaß zu Besorgnis geben als eine sperrige.

Nicht eine sperrige Justiz also gibt Anlaß zum kritischen Nachdenken über den Zustand der Dritten Gewalt; es ist vielmehr das gerade Gegenteil, über das man sich beklagen möchte: Es sind die vielfältigen Abhängigkeiten, unter denen die Justiz nicht erst seit heute lebt und leidet (28).

Abhängigkeiten irgendwelcher Art müssen für die Justiz wegen des eben erwähnten (29) Verfassungsprinzips der richterlichen Unabhängigkeit Gegenstand besonderer Aufmerksamkeit sein, und sie sind es auch immer gewesen. Dabei ist klar, daß das verfassungsrechtliche Unabhängigkeitskonzept nur bestimmte, präzisierte Dependenzkonstellationen im Auge hat (30) und nicht auf alles anwendbar ist, was im professionellen Alltag nach Abhängigkeit von Justizpersonen aussieht. Klar sollte aber auch sein, daß die Justiz ihre Suche nach Abhängigkeitsverhältnissen nicht nur auf die Spitze des Eisbergs konzentrieren, sondern auch nach den Konstellationen fragen muß, welche diese Spitze tragen ….

…. Hinsichtlich der Karrierechancen weiß man in puncto Abhängigkeit nichts Genaues, aber das, was man vermuten darf, ist massiv. Schon das Bundesverfassungsgericht hat frühzeitig zitierend festgehalten (33), daß, wer in der richterlichen Karriere vorankommen will, sich nach den realen oder vermuteten Wünschen derjenigen richten wird, die über sein Fortkommen zu befinden haben; von diesen also wird er sich insofern abhängig machen. Die Frage kann nicht sein, ob das stimmt; die Frage kann nur sein, welche Schlüsse man daraus zieht ….

…. Was den Zustand der Dritten Gewalt derzeit am klarsten und am wirkungsvollsten charakterisiert, ist weniger traditionell als die Kennzeichen, die wir bis jetzt betrachtet haben; ganz neu ist aber auch dieser Aspekt nicht. Er arbeitet nämlich mit dem eigentlich simplen sowie immer und überall plausiblen Vorwurf, die Justiz passe deshalb nicht mehr in die Landschaft, weil sie zu teuer sei; dieser Vorwurf verfügt heute über ein stupendes Maß an Glanz und Durchschlagskraft. Ich interessiere mich für die Bedingungen dieser Karriere und für ihre Konsequenzen im Bereich der Justiz.

„Verbilligung“ ist eine Fahne, hinter der wir uns derzeit fast alle versammeln; sie wird zu einem Passepartout für die Konzeption und die Lösung gesellschaftlicher und politischer Probleme. Diese Fahne weht auf vielen Feldern, keineswegs nur auf denen der Justiz: von der Bundesbahn über das Gesundheitswesen bis zur Müllabfuhr. Sie hat viele Schwestern neben sich, alle vom selben Stamm, aber von unterschiedlichem Charakter. Sie werden hier ohne Anspruch auf System und Vollständigkeit aufgezählt: Deregulierung, Privatisierung, Outsourcing, Abbau von Staatsfunktionen, lean management, Rückführung der Beamtenquote und der Staatsverschuldung, finanzielle Selbstverantwortung für Gesundheits- und Altersvorsorge. Der Stamm, aus dem sie all kommen, ist die Ökonomisierung von Staat, Gesellschaft und individuellem Alltag der Menschen.

Diese Entwicklung hat handgreifliche Folgen für die Dritte Gewalt. Wieweit sie sich im tatsächlichen Handeln zeigen, weiß ich nicht genau, kann ich jedenfalls nicht vollständig überblicken (43). Man kann aber gut sehen, wie intensiv sie den Diskurs in und mit der Justiz bestimmen, und erfahrungsgemäß führen Veränderungen des Diskurses auf die Dauer auch zu Änderungen des Verhaltens ….

…. Die Justiz darf sich nicht auf ein Effizienzkonzept festlegen lassen, welches auf eine ökonomische Rationalität verkürzt ist (55). Es besteht die Neigung (56) – sie wird vom ökonomischen Denken genährt -, die Garantien rechtlicher Regelungen und Verfahren bloß noch als „Kosten“ zu konzipieren und sie dann herunterzurechnen. Es wächst die Entschlossenheit, die Güte des Justizsystems vorwiegend oder ausschließlich an ökonomischen Parametern zu bemessen: Menge pro Zeit. Das ist ein Begriff von Effizienz, der mit den Aufgaben der Justiz nur am Rande zu tun hat und der deshalb, sollte er sich als zentral durchsetzen, zu verzerrter Wahrnehmung und verheerenden Fehlurteilen führen wird…….

(27) Art. 97 Abs. 1 GG: „Die Richter sind unabhängig und nur dem Gesetze unterworfen“; § 1 GVG: „Die richterliche Gewalt wird durch unabhängige, nur dem Gesetz unterworfene Gerichte ausgeübt“

(28) Aus richterlicher Sicht, vor allem zur inneren Unabhängigkeit, sehr instruktiv Chr. Strecker, in Betrifft Justiz Nr. 28, Dezember 1991, 141 f.

(29) Unter II 2 b

(30) Überblick bei Pieroth, in Pieroth/Jarass, Grundgesetz, 1995, Art. 97 Rdnnr. 2 ff.

(33) BVerfGE 12, 81, 97

(43) Einige praktische Reaktionen kann man freilich feststellen; dazu unten II 4 c.

(55) Zur Eignung von Effizienzkonzepten im Bereich des Rechts schon Hassemer, Einführung in die Grundlagen des Strafrechts, 1990, S. 71 f, 323.

(56) Vgl. etwa Heitmann in der FAZ vom 4. 6. 1996, 10 („Auch die Justiz muß rechnen“), zum Strafprozeß („unnötige allgemeine Komplizierung unseres Rechts durch die höchstrichterliche Rechtsprechung“)

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