Die Gewaltenteilung in der heutigen Staatswirklichkeit

Aus dem Text:

“ … In den parlamentarischen Demokratien stellt die stärkste politische Partei oder Parteienkoalition die Regierung und die Mehrheit im Parlament und beherrscht beide Organe.  Dieser parteiliche „Übergriff“ macht es fraglich, ob das alte Gewaltenteilungsschema überhaupt noch Machtfaktoren gegeneinander ins Spiel bringt, die selbständig genug sind, um eine wirksame Gewaltenkontrolle entstehen zu lassen …“

Prof. Dr. Reinhold Zippelius (Universität Erlangen-Nürnberg)

Allgemeine Staatslehre 9. Auflage 1985

Seite 293:

§ 31 I. Strukturelle Vielfalt und Funktionenteilung als umfassendes Programm

Eines der ältesten und zugleich aktuellsten Themen, ja vielleicht die praktisch wichtigste Frage der Staatstheorie überhaupt lautet, wie in einer organisierten, mit hinreichender Integrationskraft ausgestatteten Gemeinschaft gleichwohl eine gefährliche Konzentration von Macht und ein Übermaß an zentralisiertem Dirigismus verhindert werden können […..]

Seiten 303 – 305:

§ 32 IV. Die Gewaltenteilung in der heutigen Staatswirklichkeit

In den östlichen Volksdemokratien gilt die Gewaltenbalance nicht als Verfassungsgrundsatz. Mit dem Prinzip „Alle Macht den Räten“ (§ 43 I) wird bewußt auf die mit dem odeur des Liberalismus behafteten Prinzipien des bürgerlichen Rechtsstaates und insbesondere auf den Grundsatz der Gewaltenbalance verzichtet. Das schließt natürlich nicht aus, daß Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung als Hauptarten der Staatstätigkeit auftreten, sondern es bedeutet nur, daß man kein Verfassungsprinzip daraus macht, jede dieser Funktionen an eine gesonderte Gruppe von Staatsorganen zu koppeln.

In den westlichen Demokratien gilt die Gewaltenteilung als Grundsatz, ist aber nicht rigoros nach ihrem idealtypischen Modell durchgeführt […..].

So sind in parlamentarischen Staaten die Regierung und die Verwaltung keineswegs frei von Einmischungen der Legislative. Im Gegenteil sichert der in vielen Verfassungen verbriefte Satz, daß die Regierung des Vertrauens des Parlaments bedarf, gerade einen Einfluß der gesetzgebenden Körperschaften auf Angelegenheiten der Exekutive. Strenger ist dagegen gerade in diesem Punkt die Gewaltenteilung in den Vereinigten Staaten von Amerika durchgeführt […..].

Durchbrechungen des Gewaltenteilungsschemas kommen nicht nur in der Weise vor, daß eine Gewalt auf die andere einwirkt, wie bei der parlamentarischen Kontrolle, sondern auch dergestalt, daß die eine Gewalt selber Funktionen der anderen ausübt […..].

Trotz solcher Verschränkungen, Durchbrechungen und Grenzverwischungen wird aber der eigentliche Zweck der Gewaltenteilung erreicht, solange die verschiedenen Gruppen von Staatsorganen, aufs große Ganze gesehen, sich wechselseitig wirksam kontrollieren. Hierbei kann die Kontrollfunktion, die nach der idealtypischen Gewaltenteilung der Trennung der Aufgabenbereiche – Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung – zukommen sollte, teilweise auch durch kooperative Techniken erfüllt werden (s. o. II 2).

Erhebliche Zweifel bestehen aber, wie schon gesagt, ob unter den gewandelten politischen Verhältnissen das überkommene Modell der Gewaltenteilung im ganzen noch zutrifft. In den parlamentarischen Demokratien stellt die stärkste politische Partei oder Parteienkoalition die Regierung und die Mehrheit im Parlament und beherrscht beide Organe. Dieser parteiliche „Übergriff“ macht es fraglich, ob das alte Gewaltenteilungsschema überhaupt noch Machtfaktoren gegeneinander ins Spiel bringt, die selbständig genug sind, um eine wirksame Gewaltenkontrolle entstehen zu lassen – selbst wenn man auf seiten des Parlaments die Rolle der Opposition in Rechnung stellt (§ 41 III 2) und auf seiten der Exekutive das Eigengewicht berücksichtigt, das eine sachkundige, durchorganisierte und disziplinierte Bürokratie in dem Machtgefüge eines modernen Staates besitzt (§ 37 IV).

Wo die „organisatorische“ Gewaltenbalance versagt, tritt der alte und fundamentalere Gedanke einer Balance der realen Gewalten wieder in den Vordergrund: Die Funktion der Gewaltenbalance wird in einer pluralistischen Gesellschaft wenigstens in gewissem Maße auch durch die soziologisch-politische Balance der einander widerstreitenden und sich wechselseitig beschränkenden und kontrollierenden Mächtegruppen übernommen (§ 22 II 1). Gewerkschaften und Arbeitgebervereinigungen, Wirtschaftsverbände, Bauernverbände und Verbraucherorganisationen, weltanschauliche Gruppierungen und Kirchen treten je nach den anstehenden Fragen in unterschiedlichen Konstellationen in Konkurrenz miteinander und halten sich dadurch gegenseitig in Schach. Allerdings pflegt es in der pluralistischen Demokratie an ausreichenden Sicherungen zu fehlen, die es gewährleisten, daß eine Balance erhalten bleibt, daß also keine der Gruppierungen übermächtig wird, die konkurrierenden sozialen Gewalten überspielt und das Schema des rechtsstaatlich-demokratischen Interessenausgleichs außer Wirkung setzt (§ 26 VI)…..

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Siehe auch: Karl Jaspers (1966)

 

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