Verfassungstext und Wirklichkeit sind verschiedene Dinge – Wie kann man Idee und Wirklichkeit in Einklang bringen?
a. Ein Schema:
Zum Begriff „Naturgegebenheit“
b. Ein Beispiel:
Der Weg eines erfolgreichen Verfassungsprinzips (Art. 3 Abs.2 Grundgesetz)
Die Verfassungswirklichkeit des Jahres 1949 widersprach nicht nur dem Gewaltenteilungsprinzip. Auch das Prinzip der Gleichberechtigung von Mann und Frau (Art. III 2 GG) traf eine unvorbereitete Gesellschaft an. Wie ein Verfassungsprinzip Staat und Gesellschaft verändern kann, zeigt die Geschichte dieses Prinzips.
Das Jahr 1949 kannte keine Gleichberechtigung der Geschlechter auf dem Gebiet des bürgerlichen Rechts. Dem Ehemann stand die Entscheidung in allen das gemeinschaftliche Leben betreffenden Angelegenheiten zu, insbesondere die Bestimmung von Wohnort und Wohnung; die Frau erhielt den Familiennamen des Mannes (§1354 BGB). Sie war verpflichtet, das gemeinschaftliche Hauswesen zu leiten (§ 1357 BGB). Das Vermögen der Frau wurde durch die Eheschließung der Verwaltung und Nutznießung des Mannes unterworfen (eingebrachtes Gut). Zum eingebrachten Gut gehörte auch das Vermögen, das die Frau während der Ehe erwarb (§ 1363 BGB). Der Mann konnte ohne Zustimmung der Frau über Geld und andere verbrauchbare Sachen der Frau verfügen (§ 1376 Nr. 1 BGB). Zur Verfügung über ihr eingebrachtes Gut bedurfte die Frau der Einwilligung des Mannes (§ 1395 BGB). Ein Kind erhielt den Familiennamen des Vaters (§ 1616 BGB). Das Recht und die Pflicht, kraft der elterlichen Gewalt für das Kind und das Vermögen des Kindes zu sorgen, hatte der Vater (§ 1627 BGB). Der Mutter stand die elterliche Gewalt dann zu, wenn der Vater gestorben oder für tot erklärt war oder wenn der Vater die elterliche Gewalt verwirkt hatte und die Ehe aufgelöst war (§ 1684 BGB).
Diese Rechtsvorschriften spiegelten weitgehend die Verfassungswirklichkeit der jungen Bundesrepublik Deutschland wider. Sie widersprach dem Verfassungstext des Art. 3 II GG.
Obwohl die Grundrechte die Gesetzgebung wie auch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht binden (Art. 1 III GG), traf Art. 117 GG für Art. 3 II GG die Ausnahmeregelung, dass das dieser Norm entgegenstehende Recht bis zu seiner Anpassung an diese Bestimmung in Kraft bleiben sollte, jedoch nicht länger als bis zum 31. März 1953. Der Verfassungsgeber hatte dem Gesetzgeber eine Frist eingeräumt, das einfache Recht gemäß dem vorgegebenen Prinzip der Gleichberechtigung der Geschlechter zu bereinigen. Die Frist verstrich ohne ein Tätigwerden des Gesetzgebers. Möglicherweise entsprach das überkommene bürgerliche Recht so sehr den Grundüberzeugungen dominanter politischer Kreise, dass man keine Veranlassung sah, tätig zu werden.
Die untätige Politik bekam Rückendeckung von rechtswissenschaftlich prominenter Seite. Gegen Art. 3 II GG wurde Art. 6 I GG ins Feld geführt, nach welchem Ehe und Familie unter dem besonderen Schutz des Staates stehen. Art. 3 II GG wurde in ähnlicher Weise attackiert wie Art. 92 GG bis heute: Durch den Versuch, seinen klaren Wortlaut mit Mitteln juristischer Kunst auf eine ohnmächtige Minimalaussage zu reduzieren.
In seinem Beitrag „Art. 3 II GG – vom verfassungsrechtlichen Standpunkt gesehen“ plädierte Dürig für eine Rücksichtnahme auf das christliche Ehebild in der abendländischen Kultur. Der Anspruch des Mannes auf Letztentscheidung sei eine Vorgegebenheit, die sich aus religiösen und historischen Wertungen ergebe. Die Familie bedürfe zur Wahrung ihrer Einheit der Autorität des Mannes. Maunz führte in seinem Lehrbuch „Deutsches Staatsrecht“ aus, als Leitgedanke für die justitielle Sinnerfüllung des Gleichberechtigungsartikels sei der Zusammenhang mit Art. 6 I GG zu beachten. Art. 3 II GG finde seine immanente Schranke an dem Ehebild, das die deutsche Kultur in langen geschichtlichen Zeiträumen entfaltet habe. Gleichberechti- gung könne nicht mechanisch, sondern nur organisch, nicht materiell, sondern funktionell, nicht als eine gleichmacherische, sondern nur als eine gleichwertende gemeint sein.
Der eigenständige Wortlaut des Art. 3 II GG setzte sich durch und mit ihm das Prinzip der Gleichberechtigung. Durch das Gesetz über die Gleichberechtigung von Mann und Frau auf dem Gebiet des bürgerlichen Rechts vom 18.06.1957 (Gleichberechtigungsgesetz)371 wurden die vorstehend zitierten Vorschriften des BGB aufgehoben oder abgeändert.
Maßstab gebend wirkte dieses Prinzip in der Folgezeit auf den politischen Prozess zurück. Der durch das Gleichberechtigungsgesetz eingeführte neue § 1626 I BGB, nach dem der Vater das Entscheidungerecht hatte, wenn sich die Eltern in einer Frage der Sorge für die Person oder des Vermögens des Kindes nicht einigen konnten, wurde auf Vorlage der Amtsgerichte Bensberg und Köln durch Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 29.07.1959 wegen Unvereinbarkeit mit Art. 3 II GG für nichtig erklärt. Das hinderte den Bundesgesetzgeber nicht daran, 17 Jahre später in § 1355 II BGB festzulegen, dass der Name des Mannes Ehename werde, wenn sich die Eheleute bei der Eheschließung nicht auf einen gemeinsamen Ehenamen einigen können. Wiederum wirkte ein Verfassungsprinzip Maßstab gebend auf den politischen Prozess zurück. Auf Grund der Vorlage des Amtsgerichts Tübingen wurde § 1355 BGB durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 05.03.1991373 für mit Art. 3 II GG unvereinbar erklärt. Der Gesetzgeber regelte das Ehenamensrecht neu.
Bis heute ist das Gebot der Gleichberechtigung der Geschlechter zugleich Handlungsmotiv und Maßstab für das politische Handeln geblieben. Die Geschichte seiner Umsetzung in die Realität verdeutlicht beispielhaft den Sinn und Zweck eines in der Verfassung niedergeschriebenen Prinzips.
Udo Hochschild
Text b. aus: Gewaltenteilung als Verfassungsprinzip (mit Fundstellen auf Seiten 153 bis 156)
(Rezension von Gewaltenteilung als Verfassungeprinzip)
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Siehe auch: Ferdinand Lassalle Über Verfassungswesen: „Was auf das Blatt Papier geschrieben wird, ist ganz gleichgültig, wenn es der realen Lage der Dinge, den tatsächlichen Machtverhältnissen widerspricht.“