Verfassungsrechtliche Fragen zur Selbstverwaltung der Justiz

Aus dem Text:

“ ….  Die Mutter der Wahrheit und der Gerechtigkeit ist die Zeit. Die notwendige Zeit für die Fallbearbeitung wird den Richterinnen und Richtern nicht gewährt, weil sowohl Verwaltung als auch Gesetzgebung systematisch darauf abzielen, die Qualität richterlicher Arbeit unter Finanzierungsvorbehalt zu stellen. Dies, obwohl die Justizhaushalte die mit Abstand kleinsten Haushalte darstellen. Sie liegen regelmäßig zwischen 1 % und 3 % bei Bund und Ländern. Pro Einwohner ergibt das einen Betrag von etwa fünf Euro. Mehr als eine (schlechte) Pizza ist dem Gesetzgeber die Justiz nicht wert …. „

 

Wolfgang Nešković, MdB
Richter am BGH a. D.

„sine spe ac metu – Verfassungsrechtliche Fragen zur Selbstverwaltung der Justiz“. Vortrag während der Tagung „Ökonomisierung der Rechtspflege – Risiken und Nebenwirkungen“
der Evangelischen Akademie in Bad Boll vom 17. – 19. November 2010

 

Sehr geehrte Damen und Herren,

es gibt eine sehr gut bestätigte Legende aus dem Jahre 1730.

Sie handelt über einen jungen preußischen Kronprinz, der später als Friedrich II. Geschichte gemacht hat. Als historisch sicher gilt, dass der junge Friedrich unter dem monarchischen Staat seines Vaters litt. Der Kronprinz war vom Vater in das Militär gezwungen worden. Preußen war ein Land, in dem die Hierarchie des Militärs alle Lebensbereiche der Gesellschaft prägte. Das war nichts Ungewöhnliches in jener Zeit. Ansonsten war Preußens Staatsaufbau aber weniger typisch. Wir sehen einen eigenartigen Staat im Zeitalter des aufgeklärten Absolutismus vor uns. Der Monarch vereint zwar formal die rechtsetzende, die rechtsprechende und die rechtsausführende Gewalt im Staat. Dennoch existieren Anfänge einer unabhängigen Gerichtsbarkeit und einer modernen Verwaltung, die gehalten ist, Recht und Gesetz zu achten.

Der junge Friedrich im Soldatenrock aber träumte von mehr: Mehr Freiheit, ein wenig mehr Demokratie, ganz viel Kunst und Schönheit. Mit ihm träumte sein Freund Leutnant Hans Hermann von Katte. Sie philosophierten, musizierten und fassten große Pläne für die Zeit nach Friedrichs Thronbesteigung. Sie würden den Staat der Musketen in ein preußisches Arkadien verwandeln. Doch die Freunde wussten nicht, wann das einmal möglich sein würde. Der Soldatenkönig erfreute sich bester Gesundheit. Friedrich und Katte waren jung und wollten leben, bevor sie alt waren. Der Dienst pressierte – wie man in Preußen sagte. Amerika lockte. Katte und Friedrich entscheiden sich zur Flucht.

Erstmal wollten sie nach Frankreich. Dann würde man sehen. Die Welt war so riesig und alles schien besser als Preußen. Doch so einfach lagen die Dinge nicht. Preußen war in mancherlei Hinsicht ein sehr modernes Land. Beispielsweise galt hier auch bereits eine frühe Form des Prinzips der Gleichheit vor dem Gesetz. Ob Bürgerssohn oder Adelsspross – vor den Gerichten sollte jeder gleich sein. So hatte es zwar kein Parlament, aber immerhin der König selbst bestimmt. Dass Kronprinz Friedrich überhaupt dienen musste, war der Idee der gleichen Pflichten vor dem Staat geschuldet.

Die Flucht der beiden Freunde war schlecht geplant und noch schlechter ausgeführt. Friedrich und Katte werden gefasst, bevor sie überhaupt richtig auf der Reise sind. Königssohn und Adelsspross von niedrigerer Geburt finden sich wegen ihrer Fahnenflucht vor demselben Gericht wieder. Für beide gilt das gleiche Gesetz. Es droht die Todesstrafe. Einflussreiche Ratgeber drängten den König, die Sache unter den Tisch zu kehren. Doch der Soldatenkönig blieb fest. Sein Recht musste für alle gelten. Sonst war es nichts wert. Das königliche Europa empörte sich. Wie konnte der preußische Monarch nur so herzlos sein. Die Dinge waren eben kompliziert in Preußen.
Es mischten sich dort moderne Ideen des Rechts- und Justizwesens mit alten Machtstrukturen. Es wurde wegen Fahnenflucht ohne Ansehen der Person geurteilt. Das war ungeheuer fortschrittlich. Der König handelte nur konsequent, sich zurückzuhalten.

Die befassten Richter aber waren verzweifelt. Sie lasen die Akten, studierten die eindeutige Rechtslage und kamen doch nicht in der Sache voran. Einen Königssohn zu Haft zu verurteilen, konnte schwere Folgen für ihr eigenes Leben und ihre Karriere haben. Wenn der Verurteilte später einmal den Thron bestieg, würde er sicher Rache an seinen Richtern nehmen. Dann würde es aus sein mit Einkommen, Ruf und Achtung, die das Richteramt gewährte. Vielleicht sollten sie den Kronprinzen wegen seines Jugendstreiches besser gleich zum Tode verurteilen? Was aber würde mit ihnen geschehen, wenn der Zorn des Monarchen verraucht und seine Trauer erwacht sein würde? Freispruch oder ein milde Strafe waren auch keine Möglichkeiten – sie hätte in eklatantem Widerspruch zur klaren Rechtslage gestanden. Es galt, einen Ruf als Jurist zu bewahren.
Die Richter fanden schließlich einen – noch heute beliebten – Weg, das Problem zu lösen. Sie klärten die inhaltlich unlösbare Frage formal. Sie erklärten sich für: nicht zuständig. Als staatliches Gericht sei es ihnen verwehrt, über die Bewertung überstaatlicher Belange zu urteilen. König und Königssohn stünden außerhalb des Staates und des Rechtes. Leutnant Katte aber schickten sie in die Festungshaft.

Der König tobte. Er griff in die vom König selbst gewährte Unabhängigkeit der Richter ein und änderte das Urteil ab. Katte sollte geköpft werden, der Hohenzollernprinz wenigstens dabei zusehen müssen. So geschah es auch. Katte fiel durch das Schwert, der Kronprinz nur in Ohnmacht. Die Dinge waren eben kompliziert in Preußen. Die Teilung der Staatsgewalten war nur in Anfängen zu sehen. Die Unabhängigkeit der Richter war durch ihren vorauseilenden Gehorsam ebenso gefährdet wie durch Eingriffe der feudalen Exekutivgewalt.
Die Demokratie als Grundlage der Macht fehlte ganz. Sie fehlte auch – als Basis richterlichen Selbstbewusstsein – in den Köpfen der Richter, die ihre Ämter und Karrieren königlichen Justiz-Beamten zu verdanken hatten.

(***)

Nicht nur im alten Preußen sind die Dinge kompliziert gewesen. Sie sind es in Deutschland heute immer noch. Nicht einmal die Art der Kompliziertheit hat sich so sehr geändert. Es ist die Unentschlossenheit bei der Entwicklung moderner Staatlichkeit, die immer noch Probleme bereitet.

Ich möchte Ihnen einen kurzen Überblick zum Problemstand geben: Die Bundesrepublik ist eines von nur drei Ländern in der Europäischen Union, in der die Justiz in der Verwaltung ihrer Angelegenheiten nicht selbstständig, sondern der Exekutive angegliedert ist.
Noch immer wird bei uns die Karriere von Richtern hauptsächlich in den Justizministerien gemacht. Richterinnen und Richter wissen das. Noch immer wird die Verwaltung der Gerichte von Gerichtspräsidenten gelenkt, die wie Verwaltungsbeamte der Justizministerien agieren. Die Rahmenbedingungen der Rechtsprechung haben aber großen Einfluss auf ihre inhaltlichen Ergebnisse.
Die Dritte Gewalt ist in Deutschland in einer widersprüchlichen Rolle. Eine ihrer wichtigsten Aufgaben ist die Kontrolle exekutiver Entscheidungen. Doch den wichtigsten Einfluss auf die dritte Gewalt hat die Exekutive.

Seit es das Grundgesetz gibt, diskutieren Richterinnen und Richter und die Rechtswissenschaft eine mögliche Lösung: die Selbstverwaltung der Dritten Gewalt. Die Frage lautet: Inwieweit ist es verfassungsrechtlich möglich, die Judikative aus den Machtstrukturen der Exekutive herauszulösen und als wirklich eigenständige Gewalt zu etablieren?

Sie ahnen vielleicht die Antwort schon. Die Dinge sind kompliziert. Die Verfassung enthält bereits alle Voraussetzungen für eine selbstverwaltete Justiz. Im Verfassungstext finden wir – allerdings verstreut – dazu drei moderne Grundsätze, die wir nur in die richtige Beziehung bringen müssen:

– der Grundsatz der richterliche Unabhängigkeit,
– das Prinzip der Gewaltenteilung,
– das Demokratieprinzip.

Nach diesen Prinzipien müsste die Judikative mit der nötigen demokratischen Legitimität ausgestattet werden, um mit gestärkter Unabhängigkeit ihrer Kontrollfunktion im Verhältnis zu den zwei anderen Gewalten gerecht zu werden.

Selbstverwaltung – das ist gleichsam der Strich, der alle drei Prinzipien zu einem logischen Dreieck verbinden könnte. Zu allen drei Prinzipien werde ich sogleich noch ausführlich vortragen.
Einschränkend ist jedoch zu berücksichtigen, dass das Grundgesetz – dort wo es die Justiz behandelt – immer auch noch Restvorstellungen einer vormodernen judikativen Tradition enthält. So lesen wir etwa in den Artikeln 95 und 98 eine sehr starke Stellung der Justizminister bei der Einstellung der Richterinnen und Richter heraus. Nach Artikel 98 bleibt es den Bundesländern sogar freigestellt, ob sie ihren Justizministern die alleinige Macht über die Einstellung und Beförderung von Richterinnen und Richtern geben.

Einerseits beschreibt das Grundgesetz also eine Art Anbindung der Judikative an die Exekutive, andererseits zeichnet es das Bild einer unabhängigen, selbstständigen dritten Gewalt. Die Verfassung statuiert Prinzipien, die es an anderer Stelle wieder schwächt. Wie ist diese Widersprüchlichkeit zu erklären?
Nun, ich denke, sie ist nur so zu erklären, dass wir uns daran gewöhnt haben. Um der Gewöhnung zu entkommen, müssen wir zurückdenken zu den Ursprüngen des heutigen deutschen Gerichtswesens.
Wir müssen wieder zu den Preußen – und sehen welchen Weg die Rechtsgeschichte nach ihnen nimmt.

(***)

Als das Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) deutsches Recht wird, stellt das preußische Haus der Hohenzollern die deutschen Kaiser. Gewaltenteilung, richterliche Unabhängigkeit und sogar die demokratische Idee haben im Jahre 1877 in Deutschland zwar einige Fortschritte gemacht.
Doch im Weltvergleich ist Deutschland kein moderner Staat, wie es 147 Jahre zuvor – bei der Flucht von Katte und Friedrich – Preußen einmal war. In Frankreich und den U.S.A existierten damals schon bürgerliche Demokratien. England war eine echte konstitutionelle Monarchie. Deutschland hingegen war im Kern Monarchie geblieben. Sein Parlament hatte kaum Befugnisse. Die Exekutive vollstreckte den Willen des Kaisers.
Das GVG, das bis heute den wesentlichen Aufbau und die grundsätzlichen Funktionsweisen der deutschen Gerichte bestimmt – gestaltet den Justizapparat hierarchisch gegliedert und autoritär geführt.

Dieser institutionelle Aufbau der Judikative blieb auch in der Weimarer Republik bestehen. Die Verfassung der ersten deutschen Demokratie war widersprüchlich. Die Weimarer Reichsverfassung garantierte in Art. 102 die richterliche Unabhängigkeit – doch sie unterwarf gleichzeitig die Richterschaft den beamtenrechtlichen Bestimmungen.

Der lenkbare und vorauseilend gehorsame richterliche Beamte passte dann auch in das Richterbild des faschistischen Deutschlands. Der Parlamentarische Rat des Grundgesetzes suchte die Lehren aus diesem Richterbild zu ziehen.
Ein „neuer Richtertyp“ sollte entstehen, der sein Amt „im Geiste der Demokratie“ ausübt, wie es vorbildlich in der Hessischen Landesverfassung heißt.
Man wünschte sich eine selbstbewusste dritte Gewalt, die über Wahrheit und Gerechtigkeit frei von Beeinflussungen auch gegen die Mächtigen im Staat befindet.

Doch die konsequente Herauslösung des Richters aus den hierarchischen Strukturen des Beamtentums gelang nicht.

Die Verfassungseltern schrieben das neue gewünschte Verhältnis der Judikative zu den anderen beiden Gewalten nicht in den Text des Grundgesetzes. Sie erteilten den einfachen Gesetzgebern lediglich in Art. 98 einen Auftrag, die Rechtsstellung der Richter in Bund und Ländern durch Gesetze zu regeln.

Der Bund ließ sich bis 1961 Zeit. Das Deutsche Richtergesetz erklärte dann die beamtenrechtlichen Regelungen für die Richter als subsidiär anwendbar. Die Länder verfuhren ganz ähnlich. Das Gerichtsverfassungsgesetz wurde nicht entscheidend verändert. Seine Rückschrittlichkeit erkennen Sie sehr gut an einer sprachlichen Feinheit. Das Grundgesetz schützt in Artikel 92 die Unabhängigkeit der Richterinnen und Richter. Es betont damit das personelle Moment dieses Schutzes. Im Gerichtsverfassungsgesetz dagegen existiert nur ein Schutz der Institution „Justiz“. Dort ist in § 1 die Rede von unabhängigen „Gerichten“.
Das Grundgesetz hat daher an entscheidender Stelle keinen Eingang in das Gerichtsverfassungsgesetz gefunden.
So entstand – insgesamt – unter der Geltung des Grundgesetzes ein für die Laufbahn von Beamten geschaffenes Beurteilungs- und Beförderungssystem für die bundesdeutsche Richterschaft neu.

(***)

Es ist dieses System, das das Prinzip der richterlichen Unabhängigkeit und die kontrollierende Stellung der Judikative als eigenständige Staatsgewalt behindert. Ich hatte eingangs von drei Verfassungsprinzipien gesprochen. Ich will nun ausführlich zu ihnen zurückkehren und Problemstand und mögliche Lösungen entlang ihrer Logik besprechen.

Ich komme als erstes zum Prinzip der richterlichen Unabhängigkeit. Gemäß Artikel 97 Absatz 1 sind die Richterinnen und Richter „unabhängig und nur dem Gesetze unterworfen.“
Ein preußischer Justizminister hatte zur Unabhängigkeit der Richter lakonisch und zutreffend bemerkt: „Die Richter können so unabhängig sein wie sie wollen, solange wir die Personalpolitik bestimmen.“

Die Behinderungen richterlicher Unabhängigkeit sind heute nur subtilerer Natur, als es der grobe Eingriff des Soldatenkönigs in das Urteil des Gerichts über Leutnant Katte war. Carsten Löbbert, der Vizepräsident des Amtsgerichtes Lübeck, hat dies so beschrieben:

„Welchen Einfluss hat das System auf die Unabhängigkeit? Die Richterpersonen haben, wie alle Menschen, die in Organisationen arbeiten, Wünsche, Interessen und ein natürliches Streben nach Anerkennung, Bestätigung und Integration.“

Später erinnert Löbbert:

„[Es besteht] eine Kategorisierung der Richter nicht nur nach der Instanz, in der sie tätig sind, sondern auch danach, ob sie „Vorsitzender Richter“, „Aufsichtsführender Richter“, „Direktoren“, „Präsidenten“ oder deren „ständige Vertreter“ sind. Alle diese Ämter stehen zueinander in einem hierarchischen Verhältnis und sind mit unterschiedlichen Besoldungen versehen. So gibt es insgesamt 12 verschiedene Gehaltsklassen, die in den Grundgehältern zwischen 3 241 Euro und 10 768 Euro liegen. Es gibt also viel „oben“ und „unten“ in der Richterschaft und einige Richter sind gleicher als andere.“

Wir haben also erstens Richterinnen und Richter, die sich – wie alle Menschen – nach Anerkennung und Honorierung ihrer Arbeit sehnen. Wir haben zweitens ein System, in dem sich Anerkennung und Honorierung durch den Aufstieg in einer Hierarchie ausdrücken. Wir haben drittens und schließlich ein System, in dem dieser Aufstieg weitgehend in den Händen der Exekutive liegt, also durch die Justizministerien maßgeblich mitbestimmt wird.

Praktisch sieht das so aus: Die Justizminister erstellen Vorgaben, die regeln, wie die richterliche Arbeit zu bewerten ist. Nach diesen Vorgaben beurteilen nun die Gerichtspräsidenten die Arbeit ihrer Richterinnen und Richter. Aufgrund der Beurteilungen werden dann die Beförderungsstellen vergeben.
In einigen Ländern werden Richterwahlausschüsse zur Bestätigung der ministeriellen Vorschläge beteiligt. Deren Aufgabe besteht im Wesentlichen darin, die exekutive Vorauswahl zu bestätigen. In anderen Ländern wird dieser Umweg gar nicht gewählt – hier entscheidet das Justizministerium von vornherein allein.

Durch dieses System wird formal nicht in die Unabhängigkeit der Richterinnen und Richter eingegriffen, materiell aber doch. Es ist gar nicht vorstellbar, Fachwissen, Denk- und Urteilsvermögen, Verhandlungsgeschick, Kooperationsbereitschaft oder Arbeitshaltung einer Richterin oder eines Richters zu bemessen, ohne zugleich Aussagen über den „richtigen“ Umgang mit dem angeblich unabhängigen Amt zu treffen.
Richter beobachten genau, welcher ihrer Kollegen befördert wird. Sie lernen zu verstehen, welche konkrete Handhabung der Unabhängigkeit Erfolg verspricht und welche für das eigene Fortkommen schädlich ist. Das umfasst sowohl das Prozessrecht als auch das materielle Recht. So kann sich die Fallbearbeitung auch an der Karrierenützlichkeit orientieren.

Löbbert pointiert das so: „Sollen nur diejenigen, die […] die „Rechtsauffassung“ ihres Präsidenten teilen, Aussicht darauf haben gut beurteilt und dereinst zum Vorsitzenden Richter befördert zu werden?“

Sie werden kaum jemanden in der Justiz treffen, der diese Frage mit „ja“ beantworten würde. Natürlich wünschen wir uns, dass bei richterlichen Karrieren nicht allein der Krümmungsgrad des Rückgrates über das Fortkommen entscheidet.
Entscheidend sollten vielmehr die menschlichen und fachlichen Qualitäten sein. Das ist ein Ideal. Die Frage ist allerdings, unter welchen Bedingungen dieses Ideal am Besten eine Chance hat, sich zu verwirklichen.
Auch Richterinnen und Richter sind Menschen. Menschen haben immer Schwächen. Es hilft nicht, zu fordern, sie mögen sie ablegen. Es ist vielmehr die Frage zu stellen, unter welchen Verhältnissen Schwächen kritisch sind und unter welchen alternativen Verhältnissen diese Schwächen unwesentlich bleiben. Nicht nur die Menschen müssen sich ändern, sondern auch die Rahmenbedingungen, unter denen sie arbeiten.

Zu den Rahmenbedingungen richterlicher Arbeit zählt auch ein weiteres exekutives Einfallstor in die richterliche Unabhängigkeit. Gestatten Sie mir diesen kleinen Exkurs:
Es ist die Exekutive, die die Haushaltspläne der Justiz in den Parlamenten als Entwurf vorlegt. Das Justizministerium müsste es als seine vornehmste Aufgabe ansehen, der Legislative die hohe Bedeutung der dritten Gewalt auch über die Höhe des geforderten Budgets zu verdeutlichen. Doch es ist noch kein Justizminister – auch keine Justizministerin, bekannt geworden, der oder die sich dieser Aufgabe mit angemessener Leidenschaft und Durchsetzungsvermögen gestellt hätten.
Bei steigenden Fallzahlen, zu wenig Personalstellen und unzureichenden Sachmitteln wird es der Judikative unmöglich gemacht, von der richterlichen Unabhängigkeit Gebrauch zu machen.

Die Mutter der Wahrheit und der Gerechtigkeit ist die Zeit. Die notwendige Zeit für die Fallbearbeitung wird den Richterinnen und Richtern nicht gewährt, weil sowohl Verwaltung als auch Gesetzgebung systematisch darauf abzielen, die Qualität richterlicher Arbeit unter Finanzierungsvorbehalt zu stellen.
Dies, obwohl die Justizhaushalte die mit Abstand kleinsten Haushalte darstellen. Sie liegen regelmäßig zwischen 1 % und 3 % bei Bund und Ländern. Pro Einwohner ergibt das einen Betrag von etwa fünf Euro. Mehr als eine (schlechte) Pizza ist dem Gesetzgeber die Justiz nicht wert.

Doch der Richterschaft ist es – ohne Selbstverwaltung – verwehrt, ein eigenes Budget zu entwerfen und im Parlament zu begründen.

(***)

Die systemische Schwächung des Prinzips der richterlichen Unabhängigkeit ist ursächlich für die Schwächung der Judikative als dritte Gewalt. Ein beschädigtes Verfassung-Prinzip führt uns zur Beschädigung des folgenden.

Damit komme ich zum zweiten relevantem Verfassungsprinzip: dem Gewaltenteilungsgrundsatz.

In Artikel 20 Absatz 2 heißt es:

„Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.“

Weiter heißt es in Artikel 92 des Grundgesetzes:

„Die rechtsprechende Gewalt ist den Richtern anvertraut.“

Dahinter steht die Vorstellung einer umfassenden Gewaltenverschränkung und Kontrolle. Das gab es im Preußen des Soldatenkönigs nicht. In seiner Person vereinigten sich grundsätzlich Gesetzgebung und richterliche Kontrolle der Gesetzesanwendung in einer Person.
Deswegen konnte er Kattes Tod – abstrakt generell – gesetzlich normieren, exekutiv (konkret-individuell) anordnen und judikativ durchsetzen. Eine Grundidee der modernen Gesellschaft ist es, genau diese Machtkonzentration zu unterbinden. Denn dem Missbrauch der Macht lässt sich nur vorbeugen, wenn keine Institution im Staat alle Macht in den Händen hält. Wer Gesetze schafft, darf mit ihrer Drchsetzung nicht betraut sein. Wer Gesetze ausführt, ist ein schlechter Schiedsrichter, wenn es um ihre richtige Anwendung geht. Deswegen unterscheiden wir Legislative, Exekutive und Judikative.

Doch allein die formale Abgrenzung der Gewalten voneinander reicht nicht aus, um Machtmissbrauch zu verhindern. Es muss auch dafür gesorgt sein, dass die Macht einer Gewalt, den Mächten der anderen beiden Gewalten wirksam in den Arm fallen kann. Die Judikative kontrolliert ganz maßgeblich die Rechtmäßigkeit exekutiven Handelns.
Die Gerichte wachen also über die richtige Anwendung des Gesetzes durch die ausführende Gewalt. Das ist die Intention von Artikel 92 Grundgesetz. Dazu passt es nicht, dass die Exekutive durch ein System der Richterbeurteilung und -beförderung ihrerseits Einfluss auf die Justiz nimmt bzw. nehmen kann.
Auch bei dieser Analyse soll es wiederum nicht um die menschlichen Stärken oder Schwächen eines Justizministers und seiner Beamten gehen. Appelle an deren Fähigkeit, auf judikative Kontrolle nicht mit Gegenkontrolle zu antworten, sind müßig. Vielmehr ist das System zu kritisieren und zu reformieren.
Solange die Justizverwaltung die Personalpolitik an den Gerichten steuert, wird sie tendenziell – bewusst oder unbewusst – auf eine verwaltungsfreundliche Richterschaft hinwirken.

Nicht die Justizminister und Justizministerinnen müssen mehr Größe entwickeln, sondern es ist die Größe ihres Einflusses auf die Personalpolitik, die schrumpfen muss.

(***)

Zwei der drei angesprochenen Verfassungsprinzipien haben wir damit abgehandelt. Ich fasse zusammen:

Richterliche Unabhängigkeit und richterliche Gewaltenkontrolle können sich unter dem derzeitigen System nicht voll wirksam entfalten. Dies schadet nicht so sehr den Richterinnen und Richtern. Es ist vor allem schädlich für den Justizgewähranspruch der Bürgerinnen und Bürger. Um den beiden genannten Verfassungsprinzipien zu mehr Geltung zu verhelfen, wäre eine Selbstverwaltung der Justiz wünschenswert.

Alle Modelle von Selbstverwaltung müssen nun aber das dritte eingangs genannte Verfassungsprinzip beachten: das Demokratieprinzip. Das Selbstverwaltungssystem darf nicht dazu führen, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Es muss verhindert werden, dass die Justiz zu einem Staat im Staate wird.

Das Demokratieprinzip finden wir in Artikel 20 Absatz 2 S. 1 des Grundgesetzes.
“ Dort heißt es: „Alle Staatsgewalt geht vom Volkes aus.“

Das bedeutet: Jede staatliche Macht, auch die der Judikative, bedarf der Legitimierung über den Wählerwillen. Es darf also keine Selbstverwaltungsmodelle geben, bei denen allein die Richterschaft darüber entscheiden, wer Richterin und Richter wird oder nicht. Das Demokratieprinzip untersagt die Kooptation.

Nach dem jetzigen System kann ein Richter eine demokratische Legitimation auf der fünften Stufe vorweisen:

– Volk wählt Parlament.
– Parlament wählt Ministerpräsident.
– Ministerpräsident wählt Justizminister.
– Justizminister wählt Personalreferenten.
– Personalreferent wählt Richterinnen und Richter aus.

Vor diesem verfassungsrechtlichen Hintergrund haben die Richterberufsverbände Gesetzesvorschläge für eine Selbstverwaltung der Judikative vorgelegt.
Der Entwurf des Deutschen Richterbundes setzt an der Landesgesetzgebung an und meint, eine richterliche Selbstverwaltung ohne Verstoß gegen Bundesrecht oder gegen das Grundgesetz bewerkstelligen zu können.
Die Neue Richtervereinigung will die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz des Bundes für eine einheitliche Regelung auf Bundes- und Landesebene nutzen und das Grundgesetz von seinem anachronistischen Teil befreien.

Ich möchte auf die entscheidenden Gemeinsamkeiten der Vorschläge eingehen.

Der Entwurf des Deutschen Richterbundes und der Entwurf der Neuen Richtervereinigung verfolgen einen zentralen Grundansatz: Die Herauslösung der Judikative aus dem Einfluss der Exekutive und ihre Verschiebung in den Machtbereich der Richter unter Beteiligung des Parlaments. Den Entwürfen ist auch gemeinsam, dass sie die demokratische Legitimation für die Einstellung und Beförderung von Richterinnen und Richtern schon auf der zweiten Stufe regeln wollen.
Das heißt: Beide Gesetzentwürfe wollen keine direkte Wahl der Richterschaft durch das Volk, sondern lediglich eine Wahl mit Parlamentsbeteiligung.

Im Entwurf der Neuen Richtvereinigung hätte ein Richterwahlausschuss die Entscheidungskompetenz über die Ersteinstellung von Richterinnen und Richtern. Zwei Drittel seiner Mitglieder wären von der Legislative zu wählen. Nur ein Drittel der Mitglieder hätte die Richterschaft aus ihrer Mitte zu bestimmen. Damit sieht die Neue Richtervereinigung die demokratische Legitimierung als gewährleistet an.
Im Entwurf des Deutschen Richterbundes wählt ein Justizwahlausschuss einen Justizverwaltungsrat. Der Justizverwaltungsrat, der aus fünf Richtern besteht, nimmt eine Doppelfunktion wahr: Er ersetzt das Justizministerium und dort, wo es bisher Richterwahlausschüsse gab, diese. Er ist damit das zentrale Machtorgan in der Justiz. Der Justizwahlausschuss, der diesen Justizverwaltungsrat wählt, setzt sich zusammen aus dem Parlamentspräsidenten als geborenes Mitglied, neun Parlamentariern und neun Vertretern der Justiz (zwei Staatsanwälten und sieben Richterinnen oder Richtern aus sämtlichen Gerichtszweigen – mit einem Übergewicht der ordentlichen Gerichtsbarkeit).
Der Richterbund geht für die demokratische Legitimierung den Weg der doppelten Mehrheit. Sein Justizwahlausschuss entscheidet nicht nur mit der Mehrheit der Stimmen, sondern die Entscheidung ist nur wirksam, wenn zugleich die Mehrheit der Parlamentarier sie trägt.

Die Neue Richtvereinigung demokratisiert die Gerichte dezentral. Die von der Richterschaft eines Gerichts zu wählenden Präsidien erhalten für die Verwaltungstätigkeit ihres Gerichtes eine Allzuständigkeit. Zentrale Verwaltungsfragen und das Vertreten des Justizhaushaltes im Parlament übernimmt ein neu zu schaffender Gerichtsbarkeitsrat (Justizrat), in dem die Angehörigen der Judikative über eine Mehrheit von zwei Dritteln verfügen. Die Personalpolitik wird gesondert in die Hände von Richterwahlausschüssen gelegt.

Zusammengefasst heißt das für beide Entwürfe:

1. Das Justizministerium ist weder für Personal- noch für Verwaltungsaufgaben in der Justiz länger zuständig.

2. Personalfragen werden unter Beteiligung des Parlamentes getroffen.

3. Verwaltungsaufgaben, die die Gerichte betreffen, werden ausschließlich von den Richterinnen und Richtern selbst wahrgenommen.

(***)

Der zentrale Unterschied zwischen beiden Entwürfen liegt im Umgang mit den richterlichen Laufbahnen.
Der NRV-Vorschlag ist im Kern radikal-konsequent: Er fordert die Abschaffung eines gestaffelten Besoldungssystems und der damit verbundenen Hierarchisierung in der Justiz. Alle Richterinnen und Richter werden grundsätzlich gleich besoldet, wobei ein System von gestaffelten Alterszulagen eingeführt wird.

Etwa in der Mitte dieses Referats hatte ich herausgearbeitet, dass gerade das System der richterlichen Laufbahnen, das sich auf Beförderungen und damit verbundene Besoldungsvorteile gründet, die Unabhängigkeit der richterlichen Entscheidung im Kern gefährdet.
Ich denke, es ist nicht genug damit gewonnen, die Laufbahnen der Richterschaft aus den Händen der Exekutive in die Hände der Legislative und Judikative zu übertragen. Vielmehr ist das gesamte Laufbahn- und Besoldungssystem in der Justiz abzuschaffen. Warum sollten Richterinnen und Richter anders als Abgeordnete behandelt werden? Alle Abgeordneten bekommen grundsätzlich die gleichen Diäten.
Das Bundesverfassungsgericht hat gerade unter Hinweis auf die Unabhängigkeit der Abgeordneten den Ausnahmen zusätzlicher Besoldung für besondere Funktionszuweisungen im Parlament und in den Fraktionen enge Grenzen gesetzt. Es gibt keinen einsichtigen Grund, die Unabhängigkeit von Abgeordneten (vgl. Art. 38 GG) anders zu behandeln, als die Unabhängigkeit der Richterinnen und Richter (vgl. Art 97 GG).

Stellen Sie sich daher vor, wir würden – völlig kostenneutral – die Summe der richterlichen Bezüge durch die Anzahl der Richterinnen und Richter teilen. Die Gleichheit des Salärs würde das Denken der Richterschaft verändern.
Sie wäre die Revolution in unserer Justiz unter Beachtung des Grundgesetzes.

Diese Veränderung lädt zum Träumen ein.
Fortan könnten allein Interessen und Neigungen bestimmend sein, wenn es um die Zuweisung einer bestimmten Funktion in der Justiz geht.
Missgunst, Mobbing, Gier und Gemauschel verlören ihren Sinn. Nach dem Entwurf der NRV könnte so die materielle Grundlage der Judikative tiefgreifend verändert werden. Die grundsätzliche materielle Gleichheit der Richterinnen und Richter bietet Raum für die vertiefende Entwicklung ihres demokratisch-politischen Bewusstseins.

Unter gleichen Bedingungen und befreit von der Hierarchie der Bezüge und der damit verbundenen sozialen Einordnungen könnten sie selbstbewusster in den Diskurs eintreten: Über die gesellschaftliche Bedeutung ihrer Arbeit und vor allem auch über das Politische in ihren Entscheidungen.
Der in diesem Sinne – unentfremdete Richter – könnte mutiger, politischer und selbstkritischer sein als der heutige Richtertyp.

(***)

Damit haben wir die drei hier relevanten Grundprinzipien des Grundgesetzes in ein Dreieck gebracht. Die Synthese lautet: Selbstverwaltung verlangt nach ausreichender demokratischer Legitimierung und bietet Stärkung von richterlicher Unabhängigkeit und judikativer Kontrolle.

(***)

Der alte Soldatenkönig fand es nur gewöhnlich, in einen Richterspruch einzugreifen.

Als das willhelminische GVG entstand, war ganz klar, dass Richter durch Laufbahn und Besoldungssystem an die Regierungsinteressen zu binden waren. Die Weimarer Republik war wohl zu sehr mit der unglücklichen Erprobung des jungen Parlamentarismus beschäftigt, um auch noch Kraft und Ideen auf eine unabhängige Richterschaft zu verwenden.

Auch dem Grundgesetz ist es nicht gelungen, die Richterschaft von ihrer preußischen Tradition vollständig zu befreien. Dennoch hat es den Rahmen geschaffen, den notwendigen Schritt der Emanzipation zu gehen. Diese ist nunmehr nachzuholen.

Mit der „Kompliziertheit der Dinge“ lässt sich der bestehende Zustand nicht mehr rechtfertigen. Es ist genug Zeit vergangen. Die Judikative muss endlich vom Gängelband der Regierungsgewalt befreit werden. Selbstverwaltung muss selbstverständlich werden. So wie es fast überall in der Europäischen Union bereits der Fall ist.

Unabhängigkeit gedeiht bekanntlich am Besten mit dem Leitspruch der NRV:

„Ohne Hoffnung und Furcht“ oder lateinisch „sine spe ac metu“.

Ich danke Ihnen.

Zum Anfang dieser Seite

Zur Startseite