Lesefassung eines Vortrags – Erster Inhalt der Website gewaltenteilung.de (Juli1999)
Meine Aufgabe ist nicht ganz leicht. Ich möchte etwas als aktuell, ja als brisant darstellen, was im öffentlichen Bewußtsein nicht einmal ein Thema ist. Aber wann ist denn etwas überhaupt Gegenstand allgemeinen Bewußtseins, dort eingeordnet als wichtig oder unwichtig? Um diese Frage beantworten zu können, müssen wir uns ins Gedächtnis rufen, daß die Bilder, die wir von der Welt haben, wie auch die Gewichtungen, die wir diesen Einzelbildern zuordnen und mit deren Hilfe wir in uns ein nach Wichtigkeiten gegliedertes Gesamtbild der Welt zusammenstellen, nicht vom Himmel fallen, sondern gemacht werden. Was wichtig und was unwichtig ist, bestimmt der Zeitgeist. „Was ihr den Geist der Zeiten heißt, das ist im Grund der Herren eigener Geist, in dem die Zeiten sich bespiegeln“, läßt Goethe Faust zu seinem Adlatus Wagner sagen. Auch unser Weltbild ist weitgehend gemacht. Es ist der Reflex dessen, was uns die Medien übermitteln.
Mit meinem Beitrag möchte ich etwas zurückrufen, was heutzutage verschüttet zu sein scheint. Vielleicht kann ich auch eine Idee davon vermitteln, auf welche Quellen die Verschüttung zurückgehen mag.
Mein Thema ist die Gewaltenteilung. Darunter versteht man -ich will die Banalität aussprechen- die Aufteilung der staatlichen Macht auf die gesetzgebende Gewalt (erste Gewalt = Legislative), auf die ausführende Gewalt (zweite Gewalt = Exekutive) und auf die rechtsprechende Gewalt (dritte Gewalt = Judikative). Ich will die Behauptung in den Raum stellen, daß die Gewaltenteilung die Kernstruktur des Rechtsstaates darstellt, während eine Machtkonzentration bei nur einer Staatsgewalt (in der Vergangenheit war dies in der Regel die Exekutive) in die Tyrannei führt. Die Zeit von 1933 bis 1945 sollte gerade für uns Deutsche insoweit eine Lehre sein. Ich möchte darstellen, wie die Gewaltenteilung heute in Deutschland tatsächlich aussieht. Erfolg hätte ich mit meinen Ausführungen, wenn die Leser nach der Lektüre dieses Beitrages ein wenig erstaunt wären über das Ausmaß an Ignoranz, mit welchem – sich selbst so bezeichnende – Sachwalter des Rechtsstaates (Gott sei Dank, nicht alle) gegen Ende dieses Jahrhunderts auf die Katastrophen der deutschen Vergangenheit reagieren.
Bevor ich auf die Wirklichkeit -das Sein- eingehe, möchte ich von der Verfassungslage -dem Sollen- sprechen. Art. 92 Grundgesetz (GG) bestimmt, daß die rechtsprechende Gewalt den Richtern anvertraut ist und durch die Gerichte des Bundes und der Länder ausgeübt wird. Wenn das Grundgesetz die Rechtsprechung den Richtern anvertraut, dann sind eben nur diese die dritte (die rechtsprechende) Gewalt, und neben ihnen niemand sonst. So ist es erstaunlich, wenn sich immer wieder Justizminister als „Spitze der Dritten Gewalt“ bezeichnen.
Art. 97 GG legt fest, daß die Richter unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen sind. D. h., sie haben nach dem Willen des Verfassungsgebers Befehle nur von der ersten Staatsgewalt -von dem Gesetzgeber- entgegenzunehmen. Nur dieser darf ihnen vorschreiben, was und wie sie zu arbeiten haben.
Nun könnten man sagen: „Also ist ja alles in Ordnung. Im Grundgesetz steht es ja schwarz auf weiß geschrieben. Die BRD ist also wirklich ein gewaltengeteilter Rechtsstaat“. Solchem Denken müßte ich widersprechen. Eine Verfassung ist nämlich nur die Beschreibung des Staates und der Gesellschaft, die nach dem Willen des Verfassungsgebers sein sollen (die Sollensordnung). Im Augenblick ihres Inkrafttretens ist eine Verfassung Absichtserklärung und Programm für die Zukunft. Sie weist den Weg und das Ziel, das der Verfassungsgeber für die gegenwärtige Gesellschaft ins Auge gefaßt hat. So fand das Grundgesetz im Jahre 1949 eine Gesellschaft vor, deren Bewußtsein in undemokratisch verfaßten Zeiten geprägt worden war, wie auch Strukturen von Verwaltungen und Gerichten, die für ganz andere Staatsgebilde (Kaiserreich) geschaffen worden waren. Die Verfassung von 1949 beschrieb also einen Staat und eine Gesellschaft, wie sie erst nach einem Umbau sein sollten.
In der Bundesrepublik Deutschland kam dieser Umbau nur schleppend in Gang. Justiz und staatliche Verwaltung waren in erheblichem Maße mit Mitläufern des Nazi-Regimes besetzt. Unbelastet war das Bundesverfassungsgericht. Vor allem diesem ist es zu verdanken, daß die erste und die zweite Staatsgewalt in einem mühsamen Prozeß gezwungen worden sind, Gesetze und Gesetzesanwendung Stück für Stück dem Verfassungstext anzupassen (Beispiel: Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern).
Nun könnte man einwenden, das sei doch alles Schnee vom letzen Winter, wir lebten schließlich nicht mehr in den 50er oder 60er Jahren, sondern im Jahre 1999. Auch einem solchen Einwand müßte ich entgegentreten. Leider ist der Text des Grundgesetzes auch im Jahre 1999 vielfach unerfüllte Forderung.
Alle steckengebliebenen Verfassungsreformen im einzelnen darzustellen, wäre ein allzu umfangreiches Spezialthema. Ich will mich auf den Aspekt der Gewaltenteilung und den hierin enthaltenen Unteraspekt der Unabhängigkeit der Richter, begrenzt auf die Verwaltungsrichter, beschränken.
Hierzu ein kleiner Exkurs: Was eigentlich ist die Gewaltenteilung und was macht sie so wichtig?
Darüber, wie ein Staat idealerweise aufgebaut sein sollte, haben sich Denker seit Jahrtausenden den Kopf zerbrochen. Schon bei Plato ist nachzulesen, wie der Idealstaat auszusehen habe. Ich möchte aber nicht mit einem Gang durch die Geschichte langweilen und schon deshalb Altertum und Mittelalter überspringen. Während man nämlich im Mittelalter vor der Erörterung staatstheoretischer Probleme erst einmal in der Bibel nachlas, wie die Welt eigentlich funktioniert und wer der Mensch ist, begann man sich in der Neuzeit an der Realität zu orientieren. Man fing an, auf den Menschen zu schauen, um ein Menschenbild zu gewinnen. Und nach diesem Menschenbild richtete man seine Vorstellungen von den Notwendigkeiten staatlicher Ordnung aus.
Der englische Staatstheoretiker Thomas Hobbes hatte ein ganz negatives Menschenbild. Er formulierte im Jahre 1651 (aus Wesel, Geschichte des Rechts, Verlag C.H. Beck 1997):
„Man muß von Anfang an davon ausgehen, daß alle Menschen ein gemeinsames Ziel haben, sie wollen Macht und immer mehr Macht, ständig und ununterbrochen, und das endet erst mit dem Tod…..Wo Menschen zusammenkommen und kein Staat existiert, der sie in Schach hält, dort gibt es kein Vergnügen, sondern nur Ärger. Denn jeder will von dem anderen so anerkannt werden, wie er sich selber sieht. Bei jedem Zeichen von Geringschätzung geht er so weit, wie er kann, und das heißt dort, wo es keine Staatsgewalt gibt, bis zur gegenseitigen Vernichtung, natürlich auch, um in den Augen der Zuschauer dieses Racheaktes noch besser dazustehen. Solange es keinen Staat gibt, leben die Menschen im Zustande des Krieges aller gegen alle…“
Hobbes befürwortete nicht etwa die freie Entfaltung des Rechtes des Stärkeren. Ganz im Gegenteil. Er versuchte, das sich aus der negativen Natur des Menschen ergebende Dilemma mit Hilfe eines starken Staates zu lösen. Er schlug vor, daß die Menschen ihre Wolfsnatur auf einen Oberwolf übertragen, der ihnen Ordnung und Frieden garantiert. Dessen absoluter Wille sei dann Gesetz. Nur die Durchsetzung dieses Willens könne den Frieden garantieren.
Eine Generation später sah der Engländer John Locke die Menschen etwas positiver. Er setzt auf eine gemäßigte Monarchie und auf Menschenrechte. Warum, so fragt er, sollen sich die Menschen einem „Oberwolf“ unterwerfen? Wenn schon Unterwerfung, dann doch allenfalls so weit, wie sie unbedingt notwendig ist, um Recht und Ordnung zu garantieren. Also übertragen die Menschen dem Staat nicht das Recht auf Leben, Freiheit und Eigentum, sondern sie behalten diese Rechte als vorstaatliche Menschenrechte. Auch sonst ist der Monarch kein absoluter Souverän. Das Volk behält die Gesetzgebung, für die ein Parlament gewählt wird, und das nicht nur neben dem König steht, sondern sogar die höchste Gewalt ist im Staate.
Schon bei Locke finden wir das Modell eines gewaltengeteilten Staates, wenn auch noch nicht im modernen Sinne: Wir haben es nicht mehr mit einem Monarchen (König, Tyrann) zu tun, dessen Wille zugleich Gesetz ist, die Gesetze werden vielmehr von einem von dem König, also der ausführenden Gewalt, unabhängigen Gremium, dem Parlament beschlossen. Und diese Gesetze bilden die Spielregeln für die ganze Gesellschaft, sie stehen über allen, ihnen ist auch der König unterworfen. Ich betone das Wort „unterworfen“, weil ich den Eindruck habe, daß das demokratische Bewußtsein mancher Exekutivorgane der Gegenwart, gemessen an dem von John Locke erreichten zivilisatorischen Niveau, eher dem Spätmittelalter zuzuordnen ist.
Wer entscheidet nun in einem gewaltengeteilten Staate, wenn Streit darüber entsteht, ob im Einzelfall das Gesetz eingehalten oder gebrochen worden ist? Etwa die Richter, die ja vom König eingesetzt und daher von diesem abhängig sind?
Hier kommen wir zu dem Franzosen Montesquieu, der die klassische Lehre von der Gewaltenteilung vollendet hat. In seinem Werk „Vom Geist der Gesetze“ schreibt er im Jahre 1748 (Esprit des lois XI):
„Alles wäre verloren, wenn ein und derselbe Mann oder dieselbe Körperschaft der Fürsten, des Adels oder des Volkes diese drei Gewalten ausübte: Gesetze zu erlassen, sie in die Tat umzusetzen und über Verbrechen und private Streitigkeiten zu richten“.
Vor uns haben wir nunmehr einen Staat, dessen Macht auf drei Gewalten verteilt ist, auf die gesetzgebende Gewalt (erste Gewalt = Legislative), auf die ausführende Gewalt (zweite Gewalt = Exekutive) und auf die rechtsprechende Gewalt (dritte Gewalt = Judikative). Damit dieses Gefüge der Machtverteilung ausbalanciert bleibt und nicht doch wieder eine der Gewalten über die anderen die Oberhand gewinnt und eine Tyrannis entsteht, fordert Montesquieu, daß die drei Gewalten auf drei voneinander unabhängige Machtträger verteilt werden müssen.
Was eigentlich leistet die Gewaltenteilung? Im gewaltengeteilten Staat sind alle dem Gesetz unterworfen. Dies gilt für den Arbeiter im gleichen Maße wie für den Regierungschef. Wird das Gesetz verletzt, verfolgt die unabhängige Justiz jeden Täter, sei er Arbeiter oder Ministerpräsident. So ist es der unabhängigen italienischen Justiz möglich, unbehindert durch eine andere Staatsgewalt strafbarer Handlungen verdächtige Politiker, auch einen Ministerpräsidenten, wegen Gesetzesverstößen zu verfolgen. Andreotti und Berlusconi haben nicht nur ihre Ämter als Ministerpräsidenten verloren, sie waren auch der Strafverfolgung ausgesetzt. Daß das Gesetz in den USA für den Präsidenten in gleicher Weise gilt wie für den geringsten Bürger, kann an den Beispielen Nixon und Clinton verdeutlicht werden. Im Unterschied dazu soll es auf dieser Welt aber auch Staaten geben, in denen es nicht gerade als ungewöhnlich gilt, daß der Justizminister „seine“ Staatsanwaltschaft anweist, ein lästiges Strafverfahren einfach einzustellen oder erst gar nicht zu eröffnen. Letzteres dürfte für die meisten Staaten der Welt die Normalität sein. Es fragt sich nur, ob solche Staaten uneingeschränkt als „Rechtsstaaten“ zu bezeichnen sind. Die Beantwortung der Frage, zu welcher Sorte von Staaten die Bundesrepublik Deutschland zu rechnen ist, möchte ich den Leserinnen und Lesern überlassen.
Zurück zur jüngsten Vergangenheit und Gegenwart. Nachdem das Grundgesetz im Jahre 1949 in Kraft getreten war, arbeitete die Justiz in den überkommenen Strukturen nach den alten Gesetzen, orientiert an der bisherigen Gesetzesauslegung und personell weitgehend unverändert einfach weiter. Und da sich die bundesdeutschen Justizstrukturen bis zum heutigen Tage nicht nennenswert verändert haben, muß ich mich der Mühe unterziehen, sie kurz darzustellen und dann eine Antwort auf die Frage suchen, ob die Strukturen der Justiz, die das Grundgesetz schon vorfand, vielleicht zufällig schon dem entsprachen, was das Grundgesetz mit seinen Artikeln 92 und 97 forderte, ob die für das wilhelminische Reich konstruierten Justizstrukturen schon dem Grundgesetz des Jahres 1949 entsprachen, so daß man gar nichts verändern mußte. Denn genau das folgt aus der Wirklichkeitsschau der Juristen, die eine Übereinstimmung der deutschen Verfassungswirklichkeit mit der deutschen Verfassungsform behaupten.
Die heutigen Strukturen der deutschen Justiz stammen aus dem wilhelminischen Kaiserreich. Man schuf damals den Justizapparat gemäß den Wertungen des preußisch geprägten Obrigkeitsstaates: hierarchisch gegliedert und autoritär geführt. An der Spitze der Hierarchie standen die Justizminister, ihnen untergeordnet waren die Oberpräsidenten, die Präsidenten, die Direktoren, die Richter. Daß man den Richtern nicht in ihre Entscheidungsfindung hineinreden wollte, kommentierte der preußische Justizminister Leonhardt mit den Worten: „Solange ich über die Beförderungen bestimme, bin ich gern bereit, den Richtern ihre sogenannte Unabhängigkeit zu konzedieren.“ Die wilhelminische Gliederung der Justiz überdauerte das Jahr 1918, war Instrument des faschistischen Staates, und hatte sich auch bei Inkrafttreten des Grundgesetzes nicht verändert. Vielmehr war der seit dem Kaiserreich ungebrochen arbeitende Justizapparat zwischen den Jahren 1945 und 1949 längst wieder zur Tagesordnung übergegangen.
In der auch heute in ihrem Aufbau unveränderten deutschen Justiz, die man ihrer Struktur nach auch noch im Jahre 1999 als „wilhelminisch“ bezeichnen darf, ist also die rechtsprechende Gewalt nur von der gesetzgebenden Gewalt unabhängig, nicht dagegen von der Exekutive. Ganz im Gegenteil. Das Sagen haben die Justizminister, und diese verfolgen als Teile der Landesregierungen deren Interessen. So ist die Exekutive der dritten Staatsgewalt übergeordnet und ist das, was die dritte Staatsgewalt sein soll, gewissermaßen in die zweite Staatsgewalt eingebaut.
So lange ich Richter bin, hat es mich verwundert mit welcher Unverfrorenheit genau dies betritten wird, und beschämt, auf welche Weise die Verfassungswirklichkeit von Justizkarrieristen zurecht geredet wird. Irgend wann habe ich dann bei Macchiavelli die erklärenden Worte gefunden (Der Fürst, Kapitel VI):
„Jeder Neuerer hat alle die zu Feinden, die von der alten Ordnung Vorteile hatten.“
In der Aufbruchstimmung der 60er Jahre erinnerte man sich der Forderungen des Grundgesetzes. In der Deutschen Richterzeitung (DRiZ), der Fachzeitschrift des Deutschen Richterbundes, erschienen zahlreiche Beiträge, in denen eine Herauslösung der Justiz aus den Armen der Exekutive und eine Selbstverwaltung der Dritten Gewalt gefordert wurde. Es kam auch tatsächlich zu Reformen. So wurde für die Richter eine eigene Besoldungsordnung geschaffen: Waren die Richter bislang nach der für die Beamten gültigen Besoldungsordnung ( A bzw. B) besoldet worden, so galt für sie jetzt die Besoldungsordnung R. Neben der Bezeichnung der Besoldungsordnung änderte sich aber nichts Nennenswertes. Es wurden die bisherigen Richtertitel abgeändert: Statt „Amtsgerichtsrat“ heißt es seitdem „Richter am Amtsgericht“, der „Landgerichtspräsident“ wurde zum „Präsident des Landgerichts“.
Ich darf an dieser Stelle meine These wiederholen: die gegenwärtigen deutschen Justizstrukturen sind für einen kaiserlichen Obrigkeitsstaat geschaffen worden. Sie entsprechen nicht den Forderungen des Grundgesetzes. Nun gab es allerdings in der Bundesrepublik Deutschland Zeiten, in denen dies auch von hervorgehobenen Repräsentanten der Justiz öffentlich ausgesprochen worden ist. Ich meine den kurzen Zeitraum nach dem Ende der Nazi-Katasprophe, in dem es der Exekutive noch nicht möglich gewesen war, jahrelanges Wohlverhalten mit Beförderungsämtern zu belohnen.
Ich verweise auf Paulus van Husen, ein Gründungsmitglied der CDU, der Widerstandskämpfer gegen das Naziregime war und nach dem Kriege zum Präsidenten des Oberverwaltungsgerichts Münster und zum Präsidenten des Verfassungsgerichtshofes für Nordrhein-Westfalen ernannt wurde. Aus dem Jahre 1952 stammt sein Aufsatz „Die Entfesselung der Dritten Gewalt“ ( AöR 78 -1952/1953-, 49 ff). Ich darf einige Passagen aus diesem Aufsatz zitieren:
„…es geht darum, aufzudecken, daß die Selbständigkeit der Gerichte im Deutschland ein Schein ist, hinter dem eine andere rechtliche und oft auch tatsächliche Wirklichkeit steht. Dieser Schein ist historisch entstanden. Man hat sich an ihn gewöhnt, wie alles Gewordene und Bestehende den Vorteil dieses Bestehens hat, weil das Trägheitsgesetz und die Gewöhnung einer Änderung entgegenstehen…
Wenn man von Selbständigkeit der Gerichte oder ihrer Entfesselung spricht, so setzt dies voraus, daß andere Gewalten vorhanden sind, denen gegenüber diese Selbständigkeit zu betonen ist, oder von deren Fesseln die Gerichte zu befreien sind. Diese anderen Gewalten sind die Legislative und die Exekutive….
Die Legislative setzt nicht nur Recht, sondern hat auch ihre eigene Parlamentsverwaltung. Niemand würde auf den Gedanken kommen, den gesetzgebenden Körperschaften ihre eigene Verwaltung abzusprechen und diese in die Hand der Regierung zu legen, weil dadurch eine ungehörige Einflußnahme der Regierung auf die gesetzgebende Gewalt entstehen würde. Diese muß, um selbständig und unabhängig zu sein, nicht nur Recht setzten, sondern für ihre Eigenbedürfnisse auch selbst handeln, also verwalten können….
Die Entfesselung ist im derzeitigen Moment des historischen Ablaufs eine so dringende Problemstellung geworden, da sich eine Übermacht der Exekutive herausgebildet hat…..Es ist sehr aufschlußreich, daß in den Ländern, in denen das Abendland zutiefst verwurzelt ist, in Italien und Frankreich, diese Notwendigkeit erkannt und ihre Verwirklichung weitgehend in Angriff genommen worden ist in den neuen Verfassungen dieser beiden Länder von 1946 und 1947. Es ist kein gutes Zeichen für die Tiefe und Echtheit des abendländischen Gedankengutes bei uns, daß wir das Problem überhaupt nicht gesehen und, als die anderen es bereits verwirklicht hatten, uns im Grundgesetz nur zu dem törichten und verfälschten Abklatsch des Richterwahlausschusses aufgeschwungen haben, unter Hinnahme des neuen Gifttropfens der Richteranklage….
Gegenüber der gesetzgebenden Gewalt bestehen keine Abgrenzungsschwierigkeiten praktischer Art……. Die Abgrenzungsschwierigkeiten bestehen vielmehr nur gegenüber der Exekutive……Die Hauptschwierigkeit liegt in der Justizverwaltung, die völlig in den Händen der Exekutive liegt, da diese durch den Ressortminister Anweisungen allgemein und für den Einzelfall erteilen kann. Was würde die Legislative sagen, wenn die Exekutive gegenüber der Bundestags- oder Landtagsverwaltung dasselbe Recht beanspruchen würde?……Das Grundübel liegt in der Richterernennung durch die Exekutive. Zunächst besteht die häufig verwirklichte Gefahr, daß für das Richteramt ungeeignete Personen aus sachfremden Gründen, die der Exekutive nützlich erscheinen, ernannt werden. Wie soll ein Richter unabhängig sein, der sein ganzes Leben lang hinsichtlich der Beförderung in Aufrückestellen von der Exekutuve abhängt. Nicht jeder Mensch ist zum Märtyrer geboren, andererseits hat aber jeder Mensch die Pflicht, für seine Familie und sein eigenes Fortkommen zu sorgen. Die richterliche Unabhängigkeit ist eine verlogene Angelegenheit, so lange dieses System besteht…….“
So die öffentliche Äußerung eines Präsidenten des Verfassungsgerichtshofes und Präsidenten des Oberverwaltungsgerichtes im Jahre 1952. Wenn in späterer Zeit von Exponenten der Richterschaft gleichartiges allzu selten zu hören war, mag dies auch darauf zurück zu führen sein, daß die Exekutive zwischenzeitlich ihre Macht zur Ernennung ihr genehmer Präsidenten wieder zu nutzen verstand.
Zurück zur Gegenwart. Wir sind nun bei dem Entwicklungsstadium des bundesrepublikanischen Rechtsstaats angelangt, das die beitretende DDR vorgefunden hat und können uns der neuesten sächsischen Rechtsgeschichte zuwenden. Hierbei möchte ich mich -auch aus Zeitgründen- auf die Verwaltungsgerichtsbarkeit beschränken, der ich selbst angehöre. Auch die DDR kannte Zivilgerichte, Familiengerichte, Arbeitsgerichte, Strafgerichte. Das eigentlich neue für das Beitrittsgebiet waren die Verwaltungsgerichte: ein Rechtsweg des Bürgers gegen die Akte staatlicher Verwaltung. Die Bürger der neuen Bundesländer forderten im Jahre 1990 keine anderen Zivilurteile, keine neue Form der Ehescheidungen, auch keine milderen Strafurteile. So war auf der Ebene der Gerichtsbarkeiten wohl der Rechtsschutz gegen die Exekutive gemeint, als die friedlichen Revolutionäre im Jahre 1989 den „Rechtsstaat“ forderten.
Die Spielregeln für die Verwaltungsgerichtsbarkeit sind in der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) festgelegt. Über die im Jahre 1960 in Kraft getretene VwGO wurde jahrelang beraten. Man war sich damals sehr bewußt, daß nach geltendem Recht die Landesregierungen -so wie über die anderen Gerichtsbarkeiten- auch über die Verwaltungsgerichte und die Oberverwaltungsgerichte die Dienstaufsicht besaßen (z.B. die Disziplinargewalt und die Befugnis zur dienstlichen Beurteilung) und daß sie (also die Exekutiven der Länder ) es waren, die über die Beförderung von Richtern entschieden. Hieraus konnten sich aber gerade im Falle der Verwaltungsgerichtsbarkeit an das Paradoxe grenzende Konflikte ergeben. Denn beispielsweise sind es ja die Verwaltungsgerichte, die auch über die Gesetzmäßigkeit von Disziplinarmaßnahmen gegen und die dienstlichen Beurteilungen der Verwaltung über Verwaltungsrichter zu urteilen haben.
Und so beschritt man einen in der deutschen Gerichtsverfassung neuen Weg. In die VwGO wurde eine Vorschrift eingefügt, wie sie bezüglich keiner anderen Gerichtsbarkeit vorhanden ist, da sonstige bundesrechtliche Regelungen ( §§ 22 GVG, 9 SGG, 34 ArbGG ) die Dienstaufsicht über die Gerichte den Landesregierungen zu weisen:
§ 38 VWGO lautet:
Der Präsident des Gerichts übt die Dienstaufsicht über die Richter, Beamten, Angestellten und Arbeiter aus.
Übergeordnete Dienstaufsichtsbehörde für das Verwaltungsgericht ist der Präsident des Oberverwaltungsgerichts.
Dem klaren Wortlaut des § 38 Abs. 1 VwGO nach hat also die Dienstaufsicht über das Verwaltungsgericht der Präsident des Verwaltungsgerichts (und daneben niemand sonst, auch nicht die Landesregierung). Der Präsident des Oberverwaltungsgerichts hat nach § 38 Abs. 2 VwGO die übergeordnete Dienstaufsicht über das Verwaltungsgericht inne, also die Dienstaufsicht über die Präsidenten der Verwaltungsgerichte.
So soll es der Landesexekutive verboten sein, durch Anweisung der Gerichtspräsidenten und damit im Durchgriff auf die Verwaltungsrichter einwirken zu können. Denn die Gewaltenteilung wäre ja in Frage gestellt, unterlägen einerseits die Verwaltungsakte der Exekutive (auch die der Landesministerien) der rechtlichen Überprüfung durch die Verwaltungsrichter und dürfte andererseits die Landesregierung, handelnd durch ein Ministerium, darüber bestimmen, ob, wann und wie den Verwaltungsrichtern für eben diese Tätigkeiten Noten zu erteilen sind. Außerdem wäre es so dem zu Kontrollierenden in die Hand gegeben, unter seinen Kontrolleuren eine ihm genehme Karriereselektion vorzunehmen.
Daß die Regelung des § 38 sehr absichtsvoll in die VwGO aufgenommen worden ist, erhellt die amtliche Begründung der Bundesregierung für den schon im Jahre 1957 in den Bundestag eingebrachten Entwurf dieses Paragraphen, die folgenden Text hat (ich zitiere aus der Bundestagsdrucksache 55 vom 05.12.1957:
„In den Vorberatungen des Entwurfs ist der sehr beachtliche Vorschlag gemacht worden, die Verwaltungsgerichte ganz zu verselbständigen, sie also auch hinsichtlich der behördlichen Gerichtsverwaltung ebenso wie hinsichtlich der Rechtsprechung und der im Rahmen der Gerichtsverfassung liegenden Aufgaben ganz von der Exekutive zu lösen. Dabei ist auch auf die Vorbilder der französischen und der italienischen Verfassung verwiesen worden, nach denen die Unabhängigkeit der „Dritten Gewalt“ auch in dieser Beziehung weitgehend verwirklicht worden ist. Der Vorschlag sah zur Erreichung dieses Zieles vor, daß das OVG und das BVerwG die gleiche staats- verwaltungs- und haushaltsrechtliche Stellung wie die Rechnungshöfe erhalten sollten. Obgleich die Gerichtsverwaltung bei der Verwaltungsgerichtsbarkeit wegen der ihr übertragenen Aufgabe der Kontrolle der Verwaltung problematischer als z.B. bei der Zivilgerichtsbarkeit ist, läßt es sich zur Zeit nicht vertreten, das Problem losgelöst von den anderen Zweigen der Gerichtsbarkeit für die Verwaltungsgerichtsbarkeit vorweg und gesondert zu behandeln…..Das Problem bedarf noch eingehender Klärung, insbesondere unter verfassungsrechtlichen und verfassungspolitischen Gesichtspunkten“.
Auch Paulus van Husen äußerte sich in seinem Aufsatz von 1952 (a.a.O) zu diesem Thema:
„…Es muß der Mut aufgebracht werden, klar zu sagen, daß für die Verwaltungsgerichte ihrer Bestimmung nach ein weit höheres Maß von Selbständigkeit und damit Unabhängigkeit nötig ist als für die Zivilgerichte. Diese entscheiden Streit zwischen Privatpersonen und sind bei Streitigkeiten, an denen die öffentliche Hand beteiligt ist, nur insoweit zuständig, als sie fiskalisch, also in der Fiktion einer Privatperson auftritt. An diesen Entscheidungen hat die Staatsmacht kein unmittelbares Interesse. Bei den Strafgerichten tritt ein solches schon mehr in Erscheinung. Die Verwaltungsgerichte dagegen kontrollieren die Staatshoheit selbst. Sie greifen negativ und positiv verpflichtend in das Handeln der Exekutive selbst ein. Es ist ein einfacher Schluß, daß dieses Eingreifen nicht echt möglich ist, wenn die Verwaltungsgerichte von der Exekutive wiederum abhängen. Es ist absurd, daß der Kontrollierte den Kontrolleur kontrollieren soll…….Dieser nicht zu erschütternde Satz der Unmöglichkeit der Kontrolle durch einen vom Kontrollierten abhängigen Kontrolleur muß als Leitmotiv allgemeines Gedankengut werden; dann sind die Folgerungen daraus hinsichtlich der Entfesselung der Dritten Gewalt nicht mehr aufzuhalten, die bei allen Gerichten, besonders aber bei den Verwaltungsgerichten, für den Rechtsschutz nötig ist.“
Ich fasse zusammen: Die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland weist -im wesentlichen- nur drei Annäherungen der Rechtswirklichkeit der Justiz an den in der Art. 92 und 97 ausgesprochenen Willen des Grundgesetzes auf:
Die Schaffung der besonderen Vorschrift des § 38 VwGO.
Die Umbenennung der Besoldungsordnung.
Die Umbenennung der Richtertitel.
Mit diesen Neuerungen war die bundesdeutsche Kraft zur Schaffung einer unabhängigen dritten Staatsgewalt erschöpft. Im Gegenteil: Je wohlhabender die Bundesrepublik Deutschland wurde, desto weniger war sie in Justizstrukturen zu investieren bereit. Es folgte die Zeit der Verfahrensvereinfachungs- und Verfahrensbeschleunigungsgesetze. Seit langem betreibt die Demokratie in Deutschland eine Demontage von Strukturen, die dem monarchischen Deutschland nicht zu teuer waren.
– So die Rechtslage im Zeitpunkt der deutschen Wiedervereinigung-
Ich verkenne dabei nicht, daß das Bewußtsein vieler Richterinnen und Richter von der eigenen Unabhängigkeit über die mangelhafte Strukturerneuerung hinausgeht. Aber welchen Umgang pflegt nun das Sächsische Staatsministerium der Justiz mit den Verwaltungsgerichten, von denen es ja selbst in verfassungsgemäßer Unabhängigkeit kontrolliert werden soll? Um dies zu erhellen, zitiere ich aus einem Landesgesetz, das sächsische „Gesetz zur Ausführung verfahrensrechtlicher und zur Vereinfachung grundstücksrechtlicher Vorschriften“ vom 12.12.1997 (SächsGVBl. 1997, 638), in dessen § 16 geschrieben steht:
(1) Die Dienstaufsicht üben aus:
das Staatsministerium der Justiz über die Richter, Beamten, Angestellten und Arbeiter der Verwaltungsgerichte;
der Präsident des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts über die beim Oberverwaltungsgericht und bei den Verwaltungsgerichten beschäftigten Richter, Beamten, Angestellten und Arbeiter;
der Präsident des Verwaltungsgerichts über die beim Verwaltungsgericht beschäftigten Richter, Beamten, Angestellten und Arbeiter.
(Gesetzesänderung zum 01.01.2001)
Der Sächsische Landesgesetzgeber hat es unternommen, die bundesgesetzliche Regelung des § 38 VwGO praktisch außer Kraft zu setzen. Sächsische Verwaltungerichter haben nach sächsischem Landesrecht gleich drei unmittelbare Dienstvorgesetzte, darunter einen Exponenten der vor den Verwaltungsgerichten in der Regel beklagten Exekutive, den Justizminister selbst.
Nun ist es nach dem Grundgesetz einem Landesgesetzgeber verboten, eine Materie gesetzlich zu regeln, wenn schon der Bundesgesetzgeber von seiner konkurrierenden Gesetzgebungsgewalt Gebrauch gemacht hat. Was geschieht, wenn ein Landesgesetzgeber dennoch tätig wird, steht in Art. 31 GG: „Bundesrecht bricht Landesrecht“. Das Landesrecht tritt dann gegenüber dem Bundesrecht zurück und ist unbeachtlich.
Also ist doch alles in Ordnung, könnte man sagen, das sächsische Landesrecht braucht, soweit es dem § 38 VwGO widerspricht, einfach nicht beachtet zu werden. – Schön wäre das, müßte ich darauf antworten. Das Sächsische Staatsministerium der Justiz (SMJ) wendet sein Landesrecht nämlich einfach an und ignoriert das höherrangige Bundesrecht.
Im Jahre 1998 wurden alle sächsischen Verwaltungsrichter auf Weisung des SMJ und nach vom SMJ aufgestellten Kriterien benotet. Die Notenskala des SMJ enthält 7 Stufen. Sie ist so konstruiert, daß eine Höherstufung nur dann möglich ist, wenn man zuvor die darunter liegende Note erreicht hatte. So wird alle 4 Jahre eine Entscheidung darüber getroffen, ob ein Richter weiter nach oben „versetzt“ wird, oder ob er „sitzenbleibt“.
Ein Beispiel aus der sächsischen Rechtswirklichkeit: Richter des Verwaltungsgerichts Dresden stellen in einer gerichtlichen Entscheidung fest, daß ein Sächsischer Staatsminister nach der Sächsischen Verfassung und dem Sächsischen Datenschutzgesetz verpflichtet ist, dem Sächsischen Datenschutzbeauftragten eine Auskunft zu erteilen, die dieser von ihm fordert. Die Entscheidung wird auf Anfrage einer datenschutzrechtlichen Fachzeitschrift veröffentlicht. Die Landesregierung, die anderer Meinung ist, könnte sich vor aller Öffentlichkeit in Frage gestellt sehen. Zu einem späteren Zeitpunkt ist es dann diese Landesregierung, auf deren Weisung und nach deren Vorgaben eben diesen Verwaltungsrichtern Noten erteilt werden, die für deren weiteres Berufsleben bestimmend sind.
Ob eine Behandlung von Richterinnen und Richtern gleich Schülern -und das durch die Exekutive- mit dem Grundgesetz vereinbar ist, möchte ich der Beurteilung der Leserinnen und Leser überlassen. Das Augenmerk lenken möchte ich an dieser Stelle aber auf ein aus der deutschen Wiedervereinigung entstandenes gravierendes Sonderproblem. Wir haben in den neuen Bundesländern eine ganz überwiegend junge Richterschaft, die ohne richterliche Berufserfahrung eingestellt worden ist und die in Ermangelung von Vergleichsmöglichkeiten das, was ihr hier widerfährt, als Normalzustand erlebt. Daher bedürfte die Regelung der Dienstaufsicht über die Verwaltungsrichter gerade hierzulande eines Höchstmaßes an Feingefühl, soll die von der Verfassung gewollte und in einer funktionierenden Verwaltungsgerichtsbarkeit auch notwendige Unabhängigkeit der Richter nicht unterlaufen werden. Wird das Verhalten des SMJ dem gerecht?
Die Beaufsichtigung angeblich unabhängiger Organe der dritten Staatsgewalt findet noch an anderer Stelle ihren Niederschlag, in der Verwaltungsvorschrift des SMJ für die Geschäftsprüfungen bei den Gerichten. Geschäftsprüfungen werden mancherorts als notwendig betrachtet, um das Funktionieren des technischen Ablaufes an Behörden und Gerichten zu kontrollieren und verbessern zu können. Wie vorsichtig die Exekutiven anderer Bundesländer mit der Selbständigkeit gerade der Verwaltungsgerichte umgehen, könnte daraus zu ersehen sein, daß die Verwaltungsgerichtsbarkeiten Baden-Württembergs und Bayerns Geschäftsprüfungen nicht kennen und dennoch auf hohem Niveau arbeiten. In Sachsen unterliegen aber auch die Verwaltungsgerichte der Geschäftsprüfung, und dies mit einer ganz besonderen Variante: Zu prüfen ist hier auch die „Sachbehandlung durch die Richter“. Und da sich auch hier wiederum die Frage stellen könnte, was in Sachsen eigentlich von richterlicher Unabhängigkeit übrig bleibt, hat es die Verwaltungsvorschrift nötig zu betonen: „Die Unabhängigkeit der Richter und Rechtspfleger ist zu wahren“.
Ich will die mögliche Bedeutung dieser Vorschrift in Form eines Beispiels darstellen: Ein Dienstherr gibt seinem Hausangestellten folgende Anweisung: „Die Katze ist zum Waschen in das Wasser einzutauchen“, um dann hinzuzufügen: „Achten Sie aber darauf, daß sie nicht naß wird“. Ich glaube, damit zu den Geschäftsprüfungen an den sächsischen Verwaltungsgerichten genug gesagt zu haben.
Man könnte nun sagen: eine Dienstaufsicht der Regierung über die Verwaltungsrichter muß einfach sein, und hierfür kluge Argumente finden. Doch wie rechtfertigt sich dann die Freiheit des Bundesverfassungsgerichtes von exekutivischer Dienstaufsicht? Auch die Rechnungshöfe des Bundes und der Länder sind (schlichter Lebenserfahrung folgend?) nicht der Dienstaufsicht derer unterworfen, die sie kontrollieren sollen.
Es mag Zeiten gegeben haben, in denen weniger rechtsdogmatische Künsteleien als gesunder Menschenverstand das Verhältnis zwischen Exekutive und Verwaltungsgerichtsbarkeit bestimmten. So waren die Richter des Preußischen Oberverwaltungsgerichtes von dessen Gründung im Jahre 1875 an von jeder Dienstaufsicht durch die Exekutive frei. Gleiches galt für das Sächsische Oberverwaltungsgericht.
Sie verloren diese Freiheit durch § 7 Abs. 1 der Ersten Durchführungsverordnung vom 29.04.1941 zum Führer-Erlaß über die Errichtung des Reichsverwaltungsgerichtes. Von da an übte der Reichsminister des Innern die oberste Dienstaufsicht aus (Weist, Die Entwicklung der Dienstaufsicht über Richter, DRiZ 1968, 223). Demnach kann wohl nicht festgestellt werden, daß die heutigen Befürworter einer Dienstaufsicht der Exekutive über die Verwaltungsgerichtsbarkeit in dieser Frage der Tradition der Gründer des Preußischen und des Sächsischen Oberverwaltungsgerichtes folgen.
Ehemaliges Preußen – das war nach Kriegsende das halbe Westdeutschland. Daß man nach Inkrafttreten des Grundgesetzes nicht das dort vor dem Führer-Erlaß des Jahres 1941 herrschende Rechtsniveau zum Vorbild nahm, betrachte ich als eines der Ur-Versäumnisse der Bundesrepublik Deutschland. In der Juristenwelt ist dies möglicherweise ein Tabu.
– Man muß sich vor Augen halten: Hätte der Freistaat Sachsen nach seiner Neugründung im Jahre 1990 bezüglich der Unabhängigkeit der Verwaltungsgerichtsbarkeit von der Exekutive sein altes, noch aus dem Königreich Sachsen stammendes Recht wieder eingeführt, so hätte er sich damit an die Spitze aller Bundesländer gesetzt und zugleich westeuropäisches rechtskulturelles Normalniveau erreicht. Sachsen orientierte sich leider nicht an der eigenen Vergangenheit, sondern importierte ein beachtliches westdeutsches Versäumnis.
Ich möchte auch an dieser Stelle nochmals Paulus van Husen zu Wort kommen lassen, der in seinem schon mehrfach erwähnten Aufsatz des Jahres 1952 folgendes geschrieben hat:
„Ein ganz böses Kapitel ist die sogenannte Dienstaufsicht der Exekutive, die tausend Hände hat, um den Richter abhängig zu machen und die Rechtsprechung zu beeinflussen. Was soll man dazu sagen, daß die fremde Gewalt Vorhaltungen über die ihr artfremde Abfassung von Urteilen im Einzelfall macht, Unterlassungen oder Fehler oder gar einen falschen Spruch vorwirft und sich so zur Oberrevisionsinstanz erhebt?…Es ist auch kein Trost, daß in den Justizministerien frühere Richter diese Aufsicht üben. Erfahrungsgemäß werden Richter oft Superverwaltungsbeamte, wenn sie in ein Ministerium kommen. Wie ist es möglich, die Exekutive zur Herrin des Dienststrafrechts gegen Richter zu machen, indem man ihr die Eröffnung des Verfahrens vorbehält? Was würde ein Landtagsabgeordneter zu einem solchen Recht ihm gegenüber wohl sagen? Ganz untragbar ist ferner die der Exekutive gegebene Möglichkeit, Warnungen und Verweise gegen Richter zu verhängen, was die neuen Gesetze unbesehen aus der Hitlerzeit übernommen haben, und dann gar noch ohne Recht des Richters, eine dienststrafgerichtliche Entscheidung herbeizuführen. Ich nenne ferner das Wort „Pensenzahlen“, mit denen die Exekutive den Richter entwürdigt. Ein Plansoll, das genau wie in Moskau, dem Richter unbekannt, von einigen Amtsräten der Zentralstelle aufgestellt und gehütet wird, dient zur Unterlage für dienstaufsichtsmäßige Beurteilungen, für die Beförderung und die Stellenbewilligung.“
Ich komme zum Ende und fasse zusammen: Die Forderung des Grundgesetzes nach einer unabhängigen dritten Staatsgewalt ist auch im Jahre 1999 nicht eingelöst. Hatte man in den alten Bundesländern bislang wenigstens eine Exekutive, die sich angesichts der natürlichen Konkurrenzsituation gerade zu den Verwaltungsgerichten zu einem besonders behutsamen Umgang mit den Verwaltungsrichtern veranlaßt sah, so ist in Sachsen von einer solchen Sensibilität nichts zu spüren. Man muß nicht Jurist sein, um die angewandte Paradoxie zu begreifen: Wie sollen denn Verwaltungsrichter in verfassungsrechtlich gebotener Unabhängigkeit (Art. 97 GG) die Akte der Exekutive auf ihre Rechtmäßigkeit hin überprüfen können, wenn die Exekutive ihrerseits im Durchgriff (d.h. ohne die durch § 38 VwGO geschaffenen Sperrfilter) darüber befinden kann, ob, wann und auf welche Weise eben diese Verwaltungsrichter mit dienstrechtlichen Maßnahmen überzogen werden?“
Ich habe über Dinge geschrieben, die im politischen Alltag kein Thema sind. Vielleicht ist aber die Frage nach der Grundstruktur unseres Staates so wichtig und so zeitlos, daß sie immer Thema sein sollte.
Udo Hochschild