Aus dem Text:
„…. Mit den Institutionen ist die Kontrolle verknüpft. Diese ist eine Bedingung der Freiheit in der Demokratie. Die Kontrolle ist notwendig, weil Menschen im Besitz der Macht vielleicht ohne Ausnahme dazu neigen, diese zu mißbrauchen. Im demokratischen Staat darf keine Behörde, keine Instanz, keine handelnde Persönlichkeit ohne Kontrolle bleiben ….“
Auszug (Kurzzitat) aus: „Antwort“ R. Piper & Co. Verlag München 1967
Seite 5:
VORWORT
Die scharfen Kritiken gegen meine Schrift „Wohin treibt die Bundesrepublik?“ haben mich veranlaßt zur wiederholten Besinnung, zur Präzisierung mancher Urteile, zu Ergänzungen. In dem Gespräch mit wohlwollenden und mit feindseligen Kritikern habe ich selber gelernt. Ich danke ihnen allen.
Seitdem mein Buch geschrieben wurde, ist der Zustand der Bundesrepublik nur noch bedrohlicher geworden. Meine Charakteristik muß heute schärfer ausfallen. Paradox könnte man sagen: Wir stehen in dem Zerfall einer Demokratie, die bei uns eigentlich noch gar nicht da war. Wir verrotten, ohne daß eine Substanz verrottete, die gewesen wäre. Wir können nur eines, etwas Unwahrscheinliches, aber nicht Unmögliches: durch Umkehr einen sittlich-politischen Staat gründen.[….]
Aus Seiten 143 ff.:
VI. INSTITUTIONELLES DENKEN
1. Mir wird der Mangel an institutionellem Denken vorgeworfen. Es ist richtig, daß ich mich auf das Durchdenken von Institutionen nicht eingelassen habe. Ausdrücklich verwies ich auf Eschenburg, bei dem zu finden ist, was bei mir fehlt. Aber auf andere Weise gehe ich sehr wohl auf dieses Denken ein.
Man muß die Fragen unterscheiden: ob bei bestimmten Handlungen Institutionen verletzt und die Handlungen dadurch gesetzwidrig werden, – und ob bestimmte Institutionen zweckmäßig sind und bei Unzweckmäßigkeit geändert werden sollten.
Aber zweckmäßig für welchen Zweck? Welcher Zweck wird durch eine Institution gestört? Was sind die Folgen? Ist der Zweck selber zu bejahen? Erst mit solchen Fragen beginnt das schöpferische institutionelle Denken, während vorher als selbstverständlich behandelte Gegebenheiten vorausgesetzt werden. Der Zweck selber geht über die Institutionen hinaus. Welchen Zweck ich will, geht dem institutionellen Denken vorher. Dieser vorinstitutionelle Ursprung ist politisch. Das institutionelle Denken prüft, ob der Zweck durch eine geplante oder vorhandene Institution erreicht wird.
Das institutionelle Denken ist kein autonomer Ursprung, kein abgelöster Geltungsbereich für sich. Es steht im Dienste entweder eines zu erhaltenden Zustandes oder einer fortschreitenden Politik. Die Institutionen schaffen Ordnung, Stabilität, Kontinuität. Wird das institutionelle Denken auf Erhaltung des Gegebenen beschränkt, so wird es zu einer erstarrenden Macht, die das Gegebene für endgültig hält. Es wird zur schöpferischen Macht erst dort, wo es dem politischen Willen folgt und jeweils die Institutionen findet, die diesem seine Bahnen zeigt. Wo das institutionelle Denken fehlt, entsteht Unordnung, dort, wo nur politische Willenskräfte gedankenlos am Werk sind, ein Chaos.
Die formelle Arbeit an der konsequenten Einhaltung der Institutionen ist etwas im Prinzip anderes als die schöpferische Arbeit in der Gründung von Institutionen. Hier erst erfolgen die Entscheidungen des politischen Willens in einer sich ständig wandelnden Welt.
Dieses schöpferische institutionelle Denken liegt in großen historischen Beispielen vor Augen, vor allem in Rom und in den USA (und in den Staaten Europas, die zu den urfreien Gebieten gehören: England, Holland, Schweiz). Dort beobachtet man den Reichtum und den Wandel der Institutionen, die Praxis ihrer Erfindung, die Gesinnung ihres Ursprungs. Die Amerikaner, die in ihrem Unabhängigkeitskrieg ihre Verfassungen schufen, blickten auf das republikanische Rom. Sie übernahmen ein paar Namen, gar nicht die Sachen. Denn übertragen läßt sich nichts. Aber unter den neuen, ganz anderen Bedingungen ihres Daseins ließen sich die Amerikaner von den großen politischen Motiven der republikanischen Römer inspirieren, in denen sie ihre eigenen wiedererkannten.
2. Die Institutionen haben Ziele. Sie sind zu prüfen: Ist das Ziel klar? Wir sagen heute: die Freiheit, die wahrhaftige Demokratie. Von da kommt der letzte Maßstab. Aber unmittelbar müssen die Ziele jeweils bestimmtere sein.
Ein Beispiel: Max Weber dachte (ich folge ihm in meinem Buch) an die Ermöglichung großer Staatsmänner. Die Institutionen sollen ihnen Wege bahnen und nicht versperren. Der Wille der Völker drängt zur Persönlichkeit. Das Ziel ist, die „charismatische“ Wirkung, das heißt, die Wirkung „magischer“ Eigenschaften so gering wie möglich zu machen zugunsten der Anschauung wirklicher Menschen in ihrer Größe und ihren Grenzen.
Das Grundgesetz versucht, die Wirkung der Persönlichkeit auszuschalten. Vergeblich. Denn im Rahmen der Parteiwahlen kommt es dann faktisch doch zu fast plebiszitären Persönlichkeitswahlen (Adenauer, Erhard). Das bezeugt eine Torheit im Grundgesetz. In den guten Verfassungen, die immer gemischte sind, halten sich die Kräfte die Waage.
Es ist keine Alternative zwischen Persönlichkeit und Volk, keine zwischen Persönlichkeit und Parteiprogramm. Ohne große Staatsmänner kann ein Staat nicht gedeihen.
Daß die Führer mißraten werden, schrieb Nietzsche, ist unsere einzige und große Sorge. Wenn Männer wie der Freiherr vom Stein, Gneisenau, W. v. Humboldt nach kurzer Wirksamkeit ausgeschieden wurden, so wirkte das mit zum Verderben des preußischen Staats.
Keine Institution kann erzwingen, daß große Menschen entstehen. Aber bei institutionalen Überlegungen kann die Chance für die Großen offengehalten werden oder nicht.
3. Mit den Institutionen ist die Kontrolle verknüpft. Diese ist eine Bedingung der Freiheit in der Demokratie. Die Kontrolle ist notwendig, weil Menschen im Besitz der Macht vielleicht ohne Ausnahme dazu neigen, diese zu mißbrauchen. Im demokratischen Staat darf keine Behörde, keine Instanz, keine handelnde Persönlichkeit ohne Kontrolle bleiben.
Kontrollen sind zweierlei Art. Direkte Kontrollen durch dazu ausdrücklich bestimmte Instanzen; indirekte Kontrolle durch den Zusammenhang der Institutionen, deren Vertreter in ihrem Handeln aufeinander blicken. Die erste spezielle Kontrolle ist für die Grenzfälle offenbarer Gesetzwidrigkeiten, die zweite universale Kontrolle für alle politischen Vorgänge, auch die gesetzmäßigen, unerläßlich.
Die Tendenz zur Kontrollosigkeit liegt in dem Anspruch des Ressorts, in seinem Bereich allein entscheidend zu sein, in dem absoluten Anspruch der Kompetenz und der Abwehr aller Nichtkompetenten, in dem Eigenwillen der Kundigen. Die Tendenz zur Kontrolle liegt im Hörenwollen auf das, was die anderen deuten, im Kooperieren statt im Isolieren. Diese faktische, nicht selber institutionelle Kontrolle, die nirgends aufhört und dem ehrlichen Politiker erwünscht ist für alle und für sich selbst, macht das politische Leben der auf dem gemeinsamen Boden des Staatsvolks stehenden, im Grunde miteinander zuverlässig verbundenen Politiker aus (am besten zu studieren an den Institutionen und dem ständigen Wandel im republikanischen Rom).
Meine Kritiker, die mir ein Ausweichen zur Führung durch große Persönlichkeiten, mit unrechter Alternative, vorwerfen, beachten nicht, wie sehr ich den Mangel an Kontrollen in der Bundesrepublik, den verbreiteten Unwillen gegen Kontrolle hervorgehoben habe. Nicht einmal die nächstliegenden Kontrollen werden wirklich durchgeführt (wo es geschieht, handelt es sich um eine Ausnahme): die Kontrolle der Regierung und der Bundeswehr durch das Parlament, die Kontrolle des Parlaments durch die Wähler, die Kontrolle der Parteiführungen durch innerparteiliche Demokratie. Der Geist der Kontrolle und Selbstkontrolle, der ein unerläßliches Moment produktiver und kooperativer Politik ist, scheint fast allen zuwider.
Wenn das institutionelle Denken sich beschränkt auf die Institution von Kontrollinstanzen, dann bleibt die eigentliche Kontrolle außer seinem Blickfeld. Sie wird erst sichtbar, wenn dieses Denken statt des bloß legalen Mechanismus das lebendige Miteinander untersucht, das bei uns völlig zu fehlen scheint. Die Institutionen haben zwei Seiten: Sie sind ein juristisch-mechanischer Apparat und sie sind Mittel der verantwortlichen Politik. Was sich durch Institutionen direkt machen läßt, genügt nicht. Die Verwirklichung zeigt, was sie sollen, erst durch den Geist, der in ihnen lebt.
4. In seinem ausgezeichneten Aufsatz „Der Deutsche Bundestag 1914 – 1965“ („Der Monat“, 15. August 1966) hat Wilhelm Hennis Leistungen und Versagen des Deutschen Bundestages beschrieben. Er will die Bedeutung der Institution zeigen.[….]
Im Gegensatz zu Hennis halte ich ein politisches Denken ohne philosophischen Grund für bodenlos. Dieser Grund ist nicht nur den Deutschen (diesen vielleicht oft auf falschen Wegen) eigen, sondern vielmehr auch den Engländern, Franzosen, Amerikanern. Höhepunkte sind Locke, Montesquieu, das Denken der Amerikaner der Gründerzeit (das allerdings an Größe des geistigen Selbstverständnisses nach Hannah Arendt nicht der Größe ihrer Praxis entspricht), das politische Denken Kants (dessen Größe und Klarheit keine Wirklichkeit deutscher politischer Praxis entspricht) .[….]
6. Das institutionelle Denken ist zu unterscheiden vom bürokratischen Denken. Wo immer eine Institution Massen zu organisieren hatte (wie etwa schon im alten Ägypten und heute übersteigend im Massenzeitalter), bedarf sie der Bürokratie zu ihrer Verwirklichung. Bürokratie aber ist ein längst, u. a. von Max Weber, untersuchtes und erkanntes Phänomen. Sie ist ebenso unumgänglich für das Massendasein wie gefährlich für das Menschsein. Sie ist nicht zu bekämpfen, um sie zu vernichten, sondern um sie einzuschränken. Wo sie aufgetreten ist, will sie sich selbst erhalten, auch wenn ihre ursprüngliche Aufgabe, für die sie eingerichtet wurde, hinfällig geworden ist. Sie drängt ständig zur Erweiterung. Sie wird sich selbst Zweck. Sie hat einen anonymen Charakter.
Die Kritik institutionellen Denkens bezieht sich auf bestimmte Institutionen, ihren Sinn, ihre Konsequenzen. Die Kritik der Bürokratie dagegen ist universell und hat mit bestimmten Grundanschauungen nichts zu tun. Bürokratie wird überall zum Unheil, wo sie nicht mehr nur Mittel ist, sondern eine autonome Macht wird. Der Kampf gegen sie trifft nicht ihr Dasein als solches, sondern ihren Machtwillen. Die Bürokratie vermeint, als das umfassendste Kollektiv alle Macht zu sein oder sie doch gewinnen zu können. Dagegen wäre das heute noch unverwirklichte Ideal eine Bürokratie, deren Ethos sie selber in ihre Grenze zwingt. Es würde eine Bürokratie, deren zahllose Vertreter mehr als Bürokraten, nämlich Bürokraten als Mitbürger, wären.
In der Bürokratie liegt trotz ihrer Universalität die Tendenz zu einer Gesinnung. Sie neigt zu den autoritären und hierarchischen Mächten, wird Gegner der Liberalität und Unabhängigkeit.
Die Bürokratie dient jeder Gewalt, wie sich erwiesen hat, und macht sich durch ihren Dienst erst übermächtig. Aber sie ist wiederum selber so stark, daß aus ihr auch passiver Widerstand sogar gegen totalitäre Mächte erfolgen kann. Sie muß zufriedengestellt werden. Denn nur mit ihr kann eine Macht sich in der Verwirklichung erhalten.
Deshalb hat die Autonomie der Bürokratie neben der Macht des Militärs ein unheimliches Gewicht.[….]
Seiten 234 f.
SCHLUSSWORT
Der politische Schriftsteller muß die Dinge denkend auf die Spitze treiben. Denn nur auf diesem Wege wird Klarheit. Sie entsteht durch die idealtypische Steigerung zum Guten und zum Bösen hin. Diese Steigerung ist nicht als solche die Wirklichkeit, sondern an ihr wird die Wirklichkeit gemessen.
Mein Buch ist aus Beteiligung, nicht aus bloßer Beobachtung geschrieben. Ich fühle mich in meinen Gedanken solidarisch mit den Deutschen, an die ich mich wende, an diese vermutungsweise eine Million Menschen. Nicht solidarisch aber bin ich mit den zahlreichen Deutschen, die durch ihre Urteile und Handlungen den Weg zu einer erst noch zu gewinnenden freiheitlichen Demokratie versperren.
Es ist keine Einschränkung dieser Kritik, wenn ich am Ende sage, daß ich manche führenden deutschen Politiker nicht in ihrer subjektiven Meinung für Feinde der Freiheit halte. Sie sind durch ihre Praxis Feinde der Freiheit, ohne es wahrzunehmen. Sie wissen nicht, was Freiheit ist. Die unbestimmte gute Gesinnung für Freiheit des einzelnen Menschen genügt nicht. Sie gewinnt Kraft und Klarheit nur durch die politische Umkehr.
Wenn meine Schriften zur Bundesrepublik aus Solidarität, nicht aus primärer radikaler Feindseligkeit erwachsen sind, so ist in ihnen doch sekundär eine außerordentliche Feindseligkeit gewachsen. Wer Freiheit und politisches Wollen zu entschiedenem Selbstbewußtsein bringen möchte, der wendet sich an jene Million Deutscher, denen er sich verbunden weiß. Wenn diese durch helleres Wissen an Einfluß gewinnen, ermöglichen sie eine bessere politische Zukunft. Durch die Kraft dieser Million können andere auf den Weg der politischen Einsicht gelangen. Oder sie zeigen sich wider Willen klar als die in der Tat bösen Feinde, die gegen Vernunft und Menschenwürde sich verschließen und wirken. Gefährlicher sind die Lauen, diese endlose Zahl der existentiell Unentschiedenen, die dem Zufall, der beliebigen Demagogie, der Widervernunft in jeder Gestalt zur Verfügung stehen.