Über Verfassungswesen

Aus dem Text:

„…. Wenn Sie in Ihrem Garten einen Apfelbaum haben und hängen nun an denselben einen Zettel, auf den Sie schreiben: dies ist ein Feigenbaum, ist denn dadurch der Baum zum Feigenbaum geworden? Nein, und wenn Sie Ihr ganzes Hausgesinde, ja alle Einwohner des Landes herum versammelten und laut und feierlich beschwören ließen: dies ist ein Feigenbaum – der Baum bleibt, was er war, und im nächsten Jahr, da wird sich’s zeigen, da wird er Äpfel tragen und keine Feigen. Ebenso wie wir gesehen haben mit der Verfassung. Was auf das Blatt Papier geschrieben wird, ist ganz gleichgültig, wenn es der realen Lage der Dinge, den tatsächlichen Machtverhältnissen widerspricht ….“

Ferdinand Lassalle:

Über Verfassungswesen

Ein Vortrag, gehalten 1862 in einem Berliner Bürger-Bezirksverein

 

Meine Herren!

Es ist die Aufforderung an mich ergangen, dieser geehrten Versammlung einen Vortrag zu halten, und ich habe für denselben einen Gegenstand gewählt, der sich wohl von selbst empfiehlt, weil er vor allen an der Zeit ist. Ich werde nämlich sprechen über Verfassungswesen.

Ich bemerke von vornherein, meine Herren, daß mein Vortrag eine streng wissenschafllicher sein wird. Nichtsdestoweniger oder richtiger eben deswegen wird keiner unter Ihnen sein, der diesem Vortrag nicht von Anfang bis Ende folgen und ihn ganz begreifen können wird.

Denn wahre Wissenschaftlichkeit, meine Herren – es ist gut, immer hieran zu erinnern -, besteht eben in gar nichts anderem, als in jener Klarheit des Denkens, welche, ohne irgendeine Voraussetzung zu machen, Schritt für Schritt alles aus sich selbst ableitet, sich aber eben deshalb auch mit zwingender Gewalt des Verstandes jedes nur aufmerksamen Zuhörers bemächtigt.

Diese Klarheit des Denkens bedarf daher bei ihren Zuhörern gar keiner besonderen Voraussetzung. Im Gegenteil da sie, wie bereits bemerkt, in nichts anderem als in jener Voraussetzungslosigkeit des Denkens besteht, welche alles aus sich selbst ableitet, so duldet sie nicht einmal Voraussetzungen. Sie duldet und fordert nichts anderes, als daß die Zuhörer keine Voraussetzungen irgendeiner Art, keine festen Vorurteile mitbringen, sondern den Gegenstand, wie oft sie auch bereits über ihn gedacht oder gesprochen haben mögen, von neuem untersuchen, so, als wüßten sie noch gar nichts Feststehendes von ihm, und sich also mindestens für die Zeit der Untersuchung alles dessen entschlagen, was sie bisher über den Gegenstand anzunehmen gewohnt waren.

Ich beginne also meinen Vortrag mit der Frage: was ist eine Verfassung? worin besteht das Wesen einer Verfassung?

Jeder Mensch, meine Herren, spricht heutzutage von früh bis abends über Verfassung. In allen Zeitungen, in allen Gesellschaften, in allen Wirtshäusern ist unablässig von Verfassung die Rede.

Und doch, wenn ich diese Frage ernstlich stelle: was ist das Wesen, der Begriff einer Verfassung, so fürchte ich, daß von allen diesen so Sprechenden sehr wenige imstande sein dürften, eine befriedigende Antwort zu erteilen.

Viele würden sich offenbar versucht fühlen, bei dieser Frage nach dem Bande der preußischen Gesetzsammlung pro 1850 zu greifen und da die preußische Verfassung herauszulangen.

Aber Sie sehen sofort, das ist keine Antwort auf meine Frage. Denn was darin steht, das ist nur der besondere Inhalt einer bestimmten, nämlich der preußischen Verfassung, und ist also keineswegs imstande, die Frage zu beantworten: was ist das Wesen, der Begriff einer Verfassung überhaupt.

Wenn ich diese Frage einem Juristen stelle, so wird er mir hierauf etwa eine Antwort geben, wie folgt: „Eine Verfassung ist ein zwischen König und Volk beschworener Pakt, welcher die Grundprinzipien der Gesetzgebung und Regierung in einem Lande feststellt.“ Oder er wird vielleicht noch allgemeiner, weil es ja auch republikanische Verfassungen gegeben hat, sagen: „Eine Verfassung ist das in einem Lande proklamierte Grundgesetz, welches die Organisation des öffentlichen Rechts in dieser Nation feststellt.“

Aber alle diese und ähnliche formelle juristische Definitionen sind ebenso weit entfernt, wie die vorige Antwort, eine wirkliche Antwort auf meine Frage zu bilden. Denn alle diese Antworten enthalten immer nur eine äußerliche Beschreibung dessen, wie eine Verfassung zustande kommt, und was eine Verfassung tut, aber nicht die Aufgabe: was eine Verfassung ist. Sie geben Kriterien, Erkennungszeichen an, an denen man äußerlich und juristisch eine Verfassung erkennt. Aber sie sagen uns durchaus nicht, was der Begriff, das Wesen einer Verfassung sei. Sie lassen uns deshalb auch in völliger Unklarheit darüber, ob und wann eine bestimmte Verfassung gut oder schlecht, möglich oder unmöglich, dauerhaft oder nicht dauerhaft sein wird. Denn dies alles könnte nur erst aus dem Begriff einer Verfassung hervorgehen. Man muß erst das Wesen einer Verfassung überhaupt kennen, um zu wissen, ob eine bestimmte Verfassung ihm entspricht und wie es mit ihr steht. Hierüber läßt uns aber eben jene juristische, äußerliche Art des Definierens, die sich gleichmäßig auf jedes beliebige Blatt Papier anwendet, welches von einer Nation, oder von einer Nation und ihrem Könige unterschrieben und als Verfassung ausgerufen wird, gleichviel, wie beschaffen der Inhalt dieses Blattes Papier sei, in vollständiger Unklarheit. Erst der Begriff der Verfassung ‚ Sie werden sich davon selbst überzeugen, wenn wir erst zu diesem Begriffe gelangt sein werden – ist der Quell aller Verfassungskunst und Verfassungsweisheit, die sich dann aber auch spielend und wie von selbst aus diesem Begriffe entwickeln.

Ich wiederhole also meine Frage: was ist eine Verfassung, was ist das Wesen, der Begriff einer Verfassung?

Da wir dies noch nicht wissen – wir müssen es erst gemeinschaftlich suchend finden, meine Herren – so wollen wir eine Methode anwenden, die man überhaupt immer guttun wird anzuwenden, wenn es sich darum handelt, den klaren Begriff von einer Sache zu erlangen. Diese Methode ist einfach, meine Herren. Sie besteht darin, daß man die Sache, deren Begriff man sucht, mit einer anderen ihr gleichartigen, vergleicht, und sucht den Unterschied klar und scharf zu durchdenken, der beide doch noch voneinander trennt.

Indem ich also jetzt diese Methode anwende, frage ich: wie unterscheiden sich Verfassung und Gesetz voneinander?

Beide, Verfassung und Gesetz, haben offenbar ein gleichartiges Wesen miteinander. Eine Verfassung soll Gesetzeskraft haben; sie soll also auch Gesetz sein. Aber sie soll nicht bloß Gesetz, sie soll noch mehr als Gesetz sein. Es ist also auch ein Unterschied da. Daß ein solcher Unterschied da ist, daß eine Verfassung nicht ein bloßes Gesetz sein soll, sondern noch mehr als das, ließe sich an hundert Tatsachen zeigen.

So nehmen Sie es nicht übel, meine Herren, wenn neue Gesetze erscheinen. Im Gegenteil, Sie wissen, daß es notwendig ist, daß fast alle Jahre mehr oder weniger neue Gesetze erlassen werden. Und doch kann kein neues Gesetz erlassen werden, ohne das bis dahin bestandene gesetzliche Verhältnis abzuändern. Denn brächte das neue Gesetz keine Änderung in dem bis dahin bestehenden gesetzlichen Zustand hervor, so würde es überhaupt überflüssig sein und gar nicht erlassen werden. Die Veränderung der Gesetze nehmen Sie also nicht übel, Sie betrachten sie vielmehr im allgemeinen als die regelmäßige Aufgabe der Regierungskörper. Sowie man Ihnen aber an die Verfassung rührt, so nehmen Sie es übel und schreiben: Man tastet uns die Verfassung an. Woher kommt dieser Unterschied? Dieser Unterschied ist so unleugbar da, daß in manchen Verfassungen sogar festgesetzt wurde: die Verfassung solle gar nicht abgeändert werden können; in andern, sie solle nur mit 2/3 der Stimmen der gesetzgebenden Körper, wieder in andern: der gesetzgebende Körper könne gar nicht, auch nicht im Verein mit den sonstigen Regierungsgewalten die Abänderung der Verfassung ausführen, sondern, wenn er eine Abänderung beschlösse, so müsse extra ad hoc, zu diesem Zwecke, eine neue Versammlung vom Lande gewählt werden, um nun über die Abänderung zu entscheiden.

In allen diesen Tatsachen spricht sich somit aus, daß nach dem gesamten Gefühl der Völker eine Verfassung etwas noch viel Heiligeres, Festeres, Unveränderlicheres sein soll, als ein gewöhnliches Gesetz.

Ich nehme also meine Frage wieder auf: worin unterscheidet sich eine Verfassung von einem gewöhnlichen Gesetz?

Auf diese Frage wird man in der Regel die Antwort erhalten: eine Verfassung ist nicht bloß ein Gesetz, wie ein anderes auch, sie ist das Grundgesetz des Landes. Und es ist ganz möglich, meine Herren, daß in dieser Antwort vielleicht das Richtige in unklarer Weise verborgen liegt. Aber in dieser unklaren Weise, welche diese Antwort noch hat, ist mit ihr ebensowenig gedient. Denn es erhebt sich nun wieder die Frage: wie unterscheidet sich ein Gesetz von einem Grundgesetz? Wir sind also wieder nur soweit wie zuvor. Wir haben nur einen neuen Namen gewonnen, Grundgesetz, der uns aber zu gar nichts hilft, solange wir wieder nicht zu sagen wissen, welches der Unterschied eines Grundgesetzes und eines andern Gesetzes sei.

Suchen wir also uns der Sache in der Weise zu nähern, daß wir untersuchen, was für Vorstellungen etwa in dem Namen „Grundgesetz“ enthalten seien, mit anderen Worten: wie sich etwa ein Grundgesetz und ein anderes Gesetz voneinander unterscheiden müßten, wenn das erstere seinen Namen Grundgesetz wirklich rechtfertigen soll.

Ein Grundgesetz müßte also:

ein solches Gesetz sein, das tiefer liegt, als ein anderes gewöhnliches Gesetz; dies zeigt der Name Grund; es müßte aber auch
um ein Grundgesetz zu sein, eben den Grund der andern Gesetze bilden, d. h. also das Grundgesetz müßte in den andern gewöhnlichen Gesetzen fortzeugend tätig sein, wenn es eben ihren Grund bilden soll. Das Grundgesetz muß also in den andern gewöhnlichen Gesetzen fortwirken.
aber eine Sache, die einen Grund hat, kann nicht mehr beliebig so oder anders sein; sondern sie muß ebenso sein wie sie ist. Daß sie anders sei, leidet ihr Grund nicht. Nur das Unbegründete, und darum auch Zufällige kann so sein, wie es ist, und auch anders. Was aber einen Grund hat, das ist notwendig so wie es ist. Die Planeten haben z.B. eine gewisse Bewegung. Diese Bewegung hat entweder einen Grund, der sie bestimmt, oder sie hat keinen solchen. Wenn sie keinen hätte, so ist diese Bewegung zufällig und könnte auch jeden Moment eine andere sein. Wenn sie aber einen Grund hat, nämlich, wie die Naturforscher sagen, die Anziehungskraft der Sonne, so ist dadurch schon gegeben, daß diese Bewegung der Planeten durch den Grund, die Anziehungskraft der Sonne, bestimmt und geregelt wird, derart, daß sie nicht anders sein kann als sie ist. In der Vorstellung des Grundes liegt also der Gedanke einer tätigen Notwendigkeit, einer wirkenden Kraft, welche mit Notwendigkeit das von ihr Begründete zu dem macht, was es eben ist.

Wenn also die Verfassung das Grundgesetz seines Landes bildet, so wäre sie – und hier dämmert uns das erste Licht, meine Herren – ein bald noch näher zu bestimmendes Etwas oder, wie wir vorläufig gefunden haben, eine tätige Kraft, welche alle andern Gesetze und rechtlichen Einrichtungen, die in diesem Lande erlassen werden, mit Notwendigkeit zu dem macht, was sie eben sind, so daß von nun ab gar keine andern Gesetze als eben diese in diesem Lande erlassen werden können.

Gibt es denn nun aber etwas in einem Lande, meine Herren, – und bei dieser Frage beginnt nun allmählich das volle Licht hereinzubrechen – gibt es denn etwas in einem Lande, eine bestimmende tätige Kraft, welche auf alle Gesetze, die in diesem Lande erlassen werden, derart einwirkt, daß sie in einem gewissen Umfange notwendig so und nicht anders werden wie sie eben sind?

Ei freilich, meine Herren, gibt es so etwas und dies Etwas ist nichts anderes als – die tatsächlichen Machtverhältnisse, die in einer gegebenen Gesellschaft bestehen.

Die tatsächlichen Machtverhältnisse, die in einer jeden Gesellschaft bestehen, sind jene tätig wirkende Kraft, welche alle Gesetze und rechtlichen Einrichtungen dieser Gesellschaft so bestimmt, daß sie im wesentlichen gar nicht anders sein können, als sie eben sind.

Ich eile, mich durch ein sinnliches Beispiel ganz verständlich zu machen. Dies Beispiel wird zwar in der Form, in der ich es setze, durchaus nicht möglich sein. Aber abgesehen davon, daß sich später vielleicht zeigen wird, wie dasselbe Beispiel in einer andern Form allerdings ganz möglich ist, so kommt überhaupt gar nichts darauf an, ob das Beispiel eintreten kann, sondern bloß darauf, was wir an ihm lernen wollen, auf die Natur der Dinge, die sich enthüllen würde, wenn es einträte.

Sie wissen, meine Herren, daß in Preußen nur das Gesetzeskraft hat, was durch die Gesetzsammlung publiziert wird. Die Gesetzsammlung wird gedruckt in der Decker’schen Oberhofbuchdruckerei. Die Originale der Gesetze selbst werden in gewissen Staatsarchiven verwahrt, in andern Archiven, Bibliotheken und Magazinen die gedruckten Gesetzsammlungen.

Setzen Sie nun den Fall, daß eine große Feuersbrunst entstünde, etwa wie der Hamburger Brand, und daß nun alle diese Staatsarchive, Bibliotheken, Magazine und die Decker’sche Oberhofbuchdruckerei abbrennen und daß dies durch ein merkwürdiges Zusammentreffen der Umstände auch in den andern Städten der Monarchie stattfände und auch in bezug auf die Bibliotheken der Privatleute, in denen sich Gesetzsammlungen vorfinden, so daß nun in ganz Preußen kein einziges Gesetz in beglaubigter Form mehr existierte.

Das Land wäre dann durch dieses Unglück um alle seine Gesetze gekommen und es bliebe ihm gar nichts übrig, als sich neue Gesetze zu machen.

Glauben Sie denn nun, meine Herren, daß man in diesem Fall ganz beliebig zu Werke gehen, ganz beliebige neue Gesetze machen könnnte, wie einem das eben konventiert? Wir wollen sehen.

Ich setze also den Fall, Sie sagten: die Gesetze sind untergegangen, wir machen jetzt neue Gesetze und wir wollen hierbei dem Königtum nicht mehr diejenige Stellung gönnen, die es bisher einnahm, oder sogar: wir wollen ihm gar keine Stellung mehr gönnen.

Da würde der König einfach sagen: die Gesetze mögen untergegangen sein; aber tatsächlich gehorcht mir die Armee, marschiert auf meinen Befehl, tatsächlich geben auf meine Ordre die Kommandanten der Zeughäuser und Kasernen die Kanonen heraus und die Artillerie rückt damit in die Straße und auf diese tatsächliche Macht gestützt leide ich nicht, daß Ihr mir eine andere Stellung macht, als Ich will.

Sie sehen, meine Herren, ein König, dem das Heer gehorcht und die Kanonen, – das ist ein Stück Verfassung!

Oder ich setze den Fall, Sie sagten: Wir sind achtzehn Millionen Preußen. Unter diesen achtzehn Millionen gibt es nur eine verschwindend kleine Anzahl großer adliger Grundbesitzer. Wir sehen nicht ein, warum diese verschwindend kleine Anzahl großer Grundbesitzer einen solchen Einfluß üben soll, wie die ganzen achtzehn Millionen zusammen, indem sie aus sich ein Herrenhaus bilden, welches die Beschlüsse des von der gesamten Nation gewählten Abgeordnetenhauses aufwiegt und verwirft, wenn sie etwas taugen. Ich setze den Fall, Sie sprächen so und sagten: wir sind alle „Herren“ und wollen gar kein besonderes Herrenhaus mehr.

Nun, meine Herren, die großen adligen Grundbesitzer könnten dann freilich ihre Bauern nicht gegen Sie marschieren lassen! Ganz im Gegenteil, sie würden wahrscheinlich alle Hände voll zu tun haben, sich vor ihren Bauern zuerst zu retten.

Aber die großen adligen Grundbesitzer haben immer einen großen Einfluß bei Hof und König gehabt, und durch diesen Einfluß können sie nun das Heer und die Kanonen ebensogut für sich in Bewegung setzen, als wenn diese Machtmittel zu ihrer direkten Verfügung ständen.

Sie sehen also, meine Herrn, ein Adel, der Einfluß bei Hof und König hat, – das ist ein Stück Verfassung.

Oder ich setze den umgekehrten Fall, König und Adel einigten sich unter sich, die mittelalterliche Zunftverfassung wieder einführen zu wollen, und zwar nicht nur für das kleine Handwerk, wie man dies vor einigen Jahren wirklich zum Teil versucht hat, sondern sie in der Weise einzuführen, wie sie im Mittelalter bestand, nämlich für die gesamte Produktion in der Gesellschaft, also auch für den Groß- und Fabrikationsbetrieb und für die Produktion mit Maschinen. Es wird Ihnen bekannt sein, meine Herren, daß das große Kapital unmöglich unter dem mittelalterlichen Zunftsystem produzieren könnte, daß der eigentliche Groß- und Fabrikationsbetrieb, die Produktion mit Maschinen, unter dem mittelalterlichen Zunftsystem durchaus nicht vor sich gehen könnte. Denn nach diesem Zunftsystem bestanden z. B. überall gesetzliche Abgrenzungen der verschiedenen, auch der am nächsten miteinander verwandten Arbeitszweige, und kein Gewerbetreibender durfte zwei derselben miteinander verbinden. Der Tüncher dürfte kein Loch verstreichen, zwischen den Nagelschmieden und den Schlossern wurden damals endlose Prozesse über die Grenzen ihrer beiderseitigen Gewerbe geführt, der Kattundrucker würde keine Färber beschädigen können. Ebenso war unter dem Zunftsystem das Quantum gesetzlich genau geregelt, das ein Gewerbetreibender produzieren konnte, indem nämlich an jedem Ort in- jedem Gewerbszweige jeder Meister nur eine gleiche, gesetzlich bestimmte Anzahl von Arbeitskräften beschäftigen durfte.

Sie sehen, daß schon aus diesen beiden Gründen die große Produktion, die Produktion mit Maschinen und einem System von Maschinen, unter der Zunftverfassung nicht einen Tag vorwärts gehen könnte. Denn diese große Produktion erfordert erstens als ihre Lebensluft die Verbindung der verschiedenartigsten Arbeitszweige unter den Händen desselben großen Kapitals; zweitens die massenhafte Produktion und die freie Konkurrenz, das heißt also die unbeschränkte beliebige Anwendung von Arbeitskräften.

Wenn man also nun dennoch die Zunftverfassung heut einführen wollte – was würde entstehen?

Die Herren Borsig, Egels usw., die großen Kattunfabrikanten, Seidenfabrikanten usw., würden ihre Fabriken schließen und ihre Arbeiter entlassen, sogar die Eisenbahn-Direktionen würden dasselbe tun müssen, Handel und Gewerbe würden stocken, eine große Anzahl Handwerksmeister würde hierdurch wiederum, teils gezwungen, teils freiwillig, ihre Gesellen entlassen, diese ganze unendliche Volksmasse würde nach Brot und Arbeit rufend durch die Straßen wogen, hinter ihr stände anfeuernd durch ihren Einfluß, ermutigend durch ihr Ansehen, Vorschub leistend durch ihre Geldmittel die große Bourgeoisie, und es würde so ein Kampf ausbrechen, in welchem keineswegs der Sieg dem Heere verbleiben könnte.

Sie sehen also, meine Herren, die Herren Borsig und Egels, die großen Industriellen überhaupt, – die sind ein Stück Verfassung.

Oder ich setze den Fall, die Regierung wollte eine jener Maßregeln ergreifen, welche das Interesse der großen Bankiers entschieden kränken. Die Regierung wollte z. B. sagen, die Königliche Bank soll nicht dazu da sein, wie sie es gegenwärtig ist, den großen Bankiers und Kapitalisten, die ohnehin schon über alles Geld und allen Kredit verfügen, und die heutzutage allein auf ihre Unterschriften bei der Bank diskontieren können, das heißt Kredit erhalten, den Kredit noch billiger zu machen, sondern sie soll gerade dazu da sein, dem kleinen und Mittelmann den Kredit zugänglich zu machen – und man gäbe nun der Königlichen Bank eine solche Organisation, die dieses Resultat nach sich zöge – würde das gehen, meine Herren?

Nun, meine Herren, einen Aufstand würde das freilich nicht nach sich ziehen. Aber für die heutige Regierung ginge das auch nicht.

Denn von Zeit zu Zeit, meine Herren, kommt die Regierung in die Lage, solche Geldmittel, solche Massen von Geldmitteln zu gebrauchen, daß sie sie nicht in der Form von Steuern aufzubringen wagt. In diesem Falle greift sie zu dem Ausweg, das Geld der Zukunft aufzuessen, das heißt, Anleihen zu machen und Staatspapiere dafür auszugeben. Hierzu braucht sie die Bankiers. Zwar geht auf die Länge der Zeit der größere Teil der Staatspapiere doch wieder in die Hände der gesamten besitzenden Klasse der Nation und der kleinen Rentiers über. Aber hierzu ist Zeit, oft viel Zeit erforderlich. Die Regierung aber braucht das Geld schnell und auf einen Tisch, oder in wenigen Terminen, darin braucht sie Zwischenpersonen, Vermittler, die ihr einstweilen das gesamte Geld geben und es auf ihre eigene Kappe nehmen, die Staatspapiere, die sie dafür erhalten, im Lauf der Zeit an das große Publikum, noch dazu mit dem Gewinn der Kurssteigerung, welche den Papieren auf der Börse künstlich gegeben wird, abzusetzen. Diese Zwischenpersonen sind die großen Bankiers, und darum darf es die Regierung heutzutage mit ihnen nicht verderben.

Sie sehen also, meine Herren, die Bankiers Mendelssohn, Schickler, die Börse überhaupt – das ist ein Stück Verfassung.

Oder ich setze den Fall, die Regierung wollte z. B. ein Strafgesetz erlassen, welches, wie es deren in China gibt, wenn einer einen Diebstahl begeht, seinen Vater dafür bestraft. Das würde ebensowenig gehen, denn dagegen würde sich die allgemeine Bildung, das allgemeine Bewußtsein, zu mächtig auflehnen. Alle Staatsbeamten und Geheimräte sogar würden die Hände über den Kopf zusammenschlagen, sogar die Mitglieder des Herrenhauses würden dagegen Einsprache tun, und Sie sehen also, meine Herren, in gewissen Grenzen ist das allgemeine Bewußtsein, die allgemeine Bildung gleichfalls ein Stück Verfassung.

Oder ich setze den Fall, die Regierung entschlösse sich zwar den Adel, die Bankiers, die großen Industriellen und großen Kapitalisten überhaupt zufriedenzustellen, dagegen aber dem Kleinbürger und Arbeiter seine politische Freiheit zu entziehen. Würde das denn gehen, meine Herren? Ei freilich, meine Herren, das geht eine Zeitlang; das hat sich ja schon gezeigt, daß das geht, und wir werden später noch Gelegenheit haben, einen Blick darauf zu werfen.

Jetzt setze ich aber den Fall so: man wolle dem Kleinbürger und Arbeiter nicht nur seine politische, sondern auch seine persönliche Freiheit entziehen, das heißt, man wolle ihn für persönlich unfrei, für leibeigen oder hörig erklären, wie er dies im fernen, fernen Jahrhundert des Mittelalters in vielen Ländern in der Tat war. Würde das gehen, meine Herren? Nein, und wenn sich hierüber auch König, Adel und die ganze Bourgeoisie einten- das ginge doch nicht! Denn in diesem Falle würden Sie sagen: wir wollen uns lieber totschlagen lassen, ehe dies erdulden. Die Arbeiter würden, auch ohne daß Borsig und Egels ihre Fabriken schlössen, auf die Straßen eilen, der ganze kleine Bürgerstand ihnen zu Hilfe, und da Ihr vereinter Widerstand sehr schwer zu besiegen sein möchte, so sehen Sie, meine Herren, daß in gewissen alleräußersten Fällen Sie alle ein Stück Verfassung sind.

Wir haben jetzt also gesehen, meine Herren, was die Verfassung eines Landes ist, nämlich: die in einem Lande bestehenden tatsächlichen Machtverhältnisse.

Wie verhält es sich denn nun aber mit dem, was man gewöhnlich Verfassung nennt, mit der rechtlichen Verfassung? Nun, meine Herren, Sie sehen jetzt sofort von selbst, wie es damit steht!

Diese tatsächlichen Machtverhältnisse schreibt man auf ein Blatt Papier nieder, gibt ihnen schriftlichen Ausdruck, und wenn sie nun niedergeschrieben worden sind, so sind sie nicht nur tatsächliche Machtverhältnisse mehr, sondern jetzt sind sie auch zum Recht geworden, zu rechtlichen Einrichtungen, und wer dagegen angeht, wird bestraft!

Ebenso, meine Herren, wird Ihnen jetzt von selbst klar sein, wie man bei diesem Niederschreiben jener tatsächlichen Machtverhältnisse, wodurch sie nun auch zu rechtlichen werden, zu Werke geht.

Man schreibt da nicht hinein: der Herr Borsig ist ein Stück der Verfassung, der Herr Mendelssohn ist ein Stück der Verfassung etc., sondern man drückt dies auf eine viel gebildetere Art und Weise aus.

Will man also zum Beispiel feststellen: die wenigen großen Industriellen und großen Kapitalisten in der Monarchie sollen so viel Macht haben und mehr als alle Bürger, Arbeiter und Bauern zusammengenommen, so wird man sich hüten, das in dieser offenen und unverhüllten Form niederzuschreiben. Aber man erläßt ein Gesetz, wie zum Beispiel das oktroyierte Dreiklassenwahlgesetz vom Jahre 1849, durch welches man das Land in drei Wählerklassen einteilt, gemäß der Höhe des Steuerbetrags, den die Wähler entrichten, und der sich natürlich nach ihrem Kapitalbesitz bestimmt.

Nach den amtlichen Listen, meine Herren, die im Jahre 1849 von der Regierung nach dem Erlaß dieses Dreiklassenwahlgesetzes aufgenommen wurden, gab es damals in ganz Preußen 3.255.600 Urwähler, die in folgender Weise in die drei Wahlklassen zerfallen: Zur ersten Wählerklasse gehörten in ganz Preußen 153.808 Wähler, zur zweiten 409.945 Wähler zur dritten 2.691.950 Wähler

Ich wiederhole Ihnen, meine Herren, daß diese Zahlen aus amtlichen Listen genommen sind.

Wir sehen hieraus, daß hiernach 153.808 sehr reiche Leute soviel politische Macht in Preußen haben, wie 2.691.950 Bürger, Bauern und Arbeiter zusammengenommen, daß ferner diese 153.808 sehr reichen Leute und die 409.945 mäßig reichen Leute, welche die zweite Wählerklasse bilden, grade noch einmal soviel politische Macht haben als die ganze andere Nation zusammengenommen, ja daß die 153.808 sehr Reichen und die bloße Hälfte der 409.945 Wähler der zweiten Klasse schon mehr politische Macht haben, als die andere Hälfte der mäßig reichen zweiten Klasse und die 2.691.950 der dritten zusammengenommen.

Sie sehen hieraus, meine Herren, daß man auf diese Weise genau dasselbe Resultat erzielt, als wenn man mit plumpen Worten in die Verfassung schriebe: ein Reicher soll siebzehnmal soviel politische Macht haben als ein anderer Bürger oder ebensoviel als siebzehn andere.

Ehe dieses Dreiklassenwahlgesetz erlassen wurde, bestand bereits gesetzlich, durch das Gesetz vom 8. April 1848, das allgemeine Wahlrecht, welches jedem Bürger, gleichviel ob reich ob arm, dasselbe Wahlrecht und also dieselbe politische Macht, an der Bestimmung des Staatswillens und des Staatszweckes teilzunehmen, zusprach. Sie sehen also, meine Herren, daß sich durch diesen Beleg rechtfertigt, was ich vorhin sagte, daß es nämlich leider leicht genug ist, Ihnen, dem Kleinbürger und Arbeiter, Ihre politische Freiheit zu nehmen, wenn man Ihnen nur Ihre persönlichen Güter, Körper und Eigentum nicht unmittelbar und radikal entzieht. Denn Sie haben sich damals das Wahlrecht mit leichter Mühe entziehen lassen und noch bis jetzt ist mir nichts bekanntgeworden von einer Agitation zur Wiedererlangung desselben.

Will man ferner in der Verfassung feststellen: eine kleine Anzahl adliger Grundbesitzer soll für sich allein wieder soviel Macht besitzen, wie Reiche, Wohlhabende und Nichtbesitzende, wie die Wähler aller drei Klassen, die ganze Nation zusammengenommen, so wird man sich wieder hüten, dies mit so ungebildeten Worten zu sagen ‚ denn bemerken Sie wohl, meine Herren, ein für allemal, alles Deutliche ist ungebildet – sondern man setzt in die Verfassung: es solle mit einigen unwesentlichen Zutaten aus den Vertretern des alten und befestigten Grundbesitzes ein Herrenhaus gebildet werden, dessen Zustimmung zu den die ganze Nation vertretenden Beschlüssen des Abgeorduetenhauses erforderlich ist und das somit einer Handvoll alter Grundbesitzer die politische Macht gibt, auch den einstimmigen Willen der Nation und aller ihrer Klassen aufzuwiegen.

Und will man nun weiter, daß der König für sich allein wieder ebensoviel und noch weit mehr politische Macht haben soll, als alle drei Wählerklassen, als die gesamte Nation und die adligen Grundbesitzer noch dazu genommen, so macht man das so:

Man setzt in den Artikel 47 der Verfassung: „Der König besetzt alle Stellen im Heer“, und in dem Artikel 108 der Verfassung sagt man: „Eine Vereidigung des Heers auf die Verfassung findet nicht statt.“ Und diesem Artikel stellt man dann die Theorie zur Seite, die in der Tat in ihm einen prinzipiellen Boden hat, die Theorie nämlich, daß der König zu dem Heer eine ganz andere Stellung habe, als zu jeder andern Staatsinstitution, daß er in bezug auf das Heer nicht nur König, sondern auch noch etwas ganz anderes, ganz Besonderes, Geheimnisvolles und Unbekanntes sei, wofür man das Wort „Kriegsherr“ erfindet, und daß infolgedessen das Abgeordnetenhaus oder die Nation sich um das Heer gar nicht zu bekümmern, und in dessen Angelegenheiten und Organisation nicht hinein zu sprechen, sondern nur die Gelder für dasselbe zu votieren habe. Und man muß, wie gesagt, zugestehen, meine Herren – Wahrheit vor allem -, daß die Theorie allerdings eine gewisse Grundlage in dem Artikel 108 der Verfassung hat. Denn wenn einmal die Verfassung bestimmt, daß das Heer nicht, wie doch alle Staatsdiener und der König selbst, auf die Verfassung beeidet werden solle, so ist damit allerdings im Prinzip erklärt, daß das Heer außerhalb der Verfassung stehen und nichts mit ihr zu tun haben daß es lediglich und ausschließlich ein Verhältnis zu der Person des Königs, und nicht zum Lande haben solle.

Sowie dies nun erreicht ist, daß der König alle Stellen im Heer besetzt und das Heer eine besondere Stellung zu ihm einnimmt, sowie dies erreicht ist, hat der König ganz allein nicht nur ebensoviel, sondern zehnmal mehr politische Macht, als das ganze Land zusammengenommen, und zwar selbst dann, wenn in Wahrheit die wirkliche Macht des Landes zehn-, zwanzig- und fünfzigmal so groß wäre, als die des Heeres. Der Grund dieses scheinbaren Widerspruchs ist ein sehr einfacher.

Das politische Machtmittel des Königs, das Heer, ist organisiert, ist in jeder Stunde beisammen, ist trefflich diszipliniert und in jedem Augenblick bereit, auszurücken; die in der Nation ruhende Macht dagegen, meine Herren, wenn sie auch in Wirklichkeit eine unendlich größere ist, ist nicht organisiert; der Wille der Nation und besonders der Grad von Entschlossenheit, den dieser Wille bereits erlangt hat oder nicht, ist ihren Mitgliedern nicht immer leicht erkennbar; keiner weiß also genau, wieviel Nebenmänner er finden würde. Zudem mangeln der Nation jene Instrumente einer organisierten Macht, jene so wichtigen Verfassungsgrundlagen, von denen wir bereits gesprochen haben: die Kanonen. Zwar werden diese für bürgerliches Geld angeschafft; zwar werden sie auch nur vermöge der Wissenschaften, welche die bürgerliche Gesellschaft in sich entwickelt, die Physik, Technik etc. verfertigt und in einem fort verbessert. Ihr bloßes Dasein ist somit selbst schon ein Beweis, wie weit es die Macht der bürgerlichen Gesellschaft, die Fortschritte der Wissenschaften, der technischen Künste, Fabrikations- und Arbeitszweige aller Art bereits gebracht haben. Aber es trifft hier der Vers des Virgil zu: sic vos non vobis! Du erzeugst es, aber nicht für dich! Da die Kanonen immer nur für die organisierte Macht verfertigt werden, so weiß das Land, daß es diese Kinder und Zeugen seiner Macht in einem Konflikte sich nur gegenüber finden würde. Diese Gründe sind es, welche es hervorbringen, daß die geringere, aber organisierte Macht häufig längere Zeit hindurch selbst die weit größere, aber nicht organisierte Macht der Nation überwiegen kann, bis dann, bei fortgesetzter Leitung und Verwaltung der nationalen Angelegenheiten in einem dem Willen und Interesse der Nation entgegengesetzten Sinne, diese sich entschließt, der organisierten Macht ihre unorganisierte Übermacht entgegenzusetzen.

Wir haben bisher gesehen, meine Herren, wie es sich mit den beiden Verfassungen eines Landes verhält, mit der wirklichen Verfassung, den realen tatsächlichen Machtverhältnissen, die in einer Gesellschaft bestehen, und mit der geschriebenen Verfassung, die wir im Unterschied von der ersteren etwa das Blatt Papier nennen können.

Eine wirkliche Verfassung, eine wirkliche Konstitution hat nun, wie Ihnen sofort von selbst klar sein wird, jedes Land und zu jeder Zeit gehabt und es ist nichts schiefer und zu verkehrteren Folgesätzen führend, als die weitverbreitete, herrschende Ansicht, es sei eine Eigentümlichkeit der modernen Zeit, Verfassungen oder Konstitutionen zu haben. Vielmehr hat notwendig und ebenso notwendig wie jeder Körper irgendeine Konstitution, eine gute oder schlechte, eine so oder so beschaffene hat, auch jedes Land eine reale Verfassung oder Konstitution. Denn in jedem Land müssen ja irgendwelche tatsächlichen Machtverhältnisse bestehen.

Als lange vor der französischen Revolution des vorigen Jahrhunderts unter der absoluten legitimen Monarchie in Frankreich Louis XVI. durch Dekret vom 3. Februar 1776 die Straßenbaufrohnden aufhob, durch welche die Bauern verpflichtet waren, unentgeltlich den Wege- und Straßenbau zu verrichten und nun statt dessen zur Bestreitung der Straßenbaukosten eine Steuer einführte, welche auch die Grundstücke der Adligen treffen sollte, da rief das französische Parlament sich hiergegen widersetzend: Le peuple de France est taillable et corvéable à volonté, c’est une partie de la constitution que le roi ne peut changer; zu Deutsch: das Volk von Frankreich, nämlich das nicht privilegierte, niedere Volk, ist mit Steuern und Frohnden zu belegen nach Willkür; dies ist ein Teil der Konstitution, die der König nicht ändern kann.

Sie sehen, meine Herren, man sprach damals von einer Konstitution, und sogar von einer solchen, die der König nicht ändern könne, so gut wie heut. Was hier als Konstitution geltend gemacht wurde, daß nämlich das niedere Volk nach Belieben und Willkür mit Steuern und Frohnden belegt werden könne, das stand damals freilich nicht in einer besonderen Urkunde, in welcher alle Rechte des Landes und alle wichtigsten Regierungsprinzipien zusammengestellt gewesen wären, sondern es war zunächst einfach der Ausdruck der tatsächlichen Machtverhältnisse in dem mittelalterlichen Frankreich. Das niedere Volk war im Mittelalter wirklich so machtlos gewesen, daß es ganz beliebig mit Steuern und Frohnden belastet werden konnte; nach diesem tatsächlichen Machtverhältnis wurde nun immer verfahren, das Volk wurde immer so belastet. Dieser tatsächliche Hergang gab die sogenannten Präzedenzfälle, die noch heutzutage in England und im Mittelalter überall, in den Verfassungsfragen eine so große Rolle spielen. Bei diesem tatsächlichen Belasten wurde nun häufig auch, wie dies nicht anders sein konnte, die Tatsache, daß das Volk so belastet werden könne, ausgesprochen. Dies Aussprechen gab den staatsrechtlichen Grundsatz, auf den dann in ähnlichen Fällen wieder rekurriert wurde. Häufig wurde auch irgendeinem besondern Umstande, welcher in den tatsächlichen Machtverhältnissen wurzelte, auf einem Pergament besonderer Ausdruck und Anerkennung gegeben. Dies gab die sogenannten Franchisen, Freiheiten, Rechte, Privilegien, Statuten eines Standes, eines Gewerbes, eines Ortes etc.

Alle diese Tatsachen, Präzedenzfälle, staatsrechtlichen Grundsätze, Pergamente, Franchisen, Statuten, Privilegien zusammen bildeten die Konstitution des Landes und alle zusammen bildeten wieder weiter nichts, als den einfachen unbefangenen Ausdruck der realen Machtverhältnisse, die in dem Lande bestanden.

Eine wirkliche Verfassung oder Konstitution also hat jedes Land und zu jeder Zeit gehabt. Was also der modernen Zeit wirklich eigentümlich ist, das sind – es ist sehr wichtig, dies stets aufs schärfste festzuhalten – nicht die wirklichen Verfassungen, sondern die geschriebenen Verfassungen, oder das Blatt Papier.

In der modernen Zeit sehen wir nämlich in den meisten Staaten das Bestreben ausbrechen, sich eine geschriebene Verfassung zu geben, die nun in einer Urkunde, auf einem Blatt Papier alle Institutionen und Regierungsprinzipien des Landes zusammenfaßt und feststellen soll.

Woher kommt dies eigentümliche Bestreben der modernen Zeiten? Dies ist wieder eine sehr wichtige Frage und nur aus ihrer Beantwortung kann sich ergeben, wie man sich bei diesem Werke des Verfassungsmachens zu benehmen, wie man in bezug auf bereits gemachte Verfassungen zu denken und sich zu ihnen zu verhalten hat; kurz, nur aus ihr ergibt sich alle Verfassungskunst und Verfassungsweisheit.

Ich frage also: Woher kommt das eigentümliche Bestreben der modernen Zeit, geschriebene Verfassungen zu errichten?

Nun, meine Herren, woher kann es kommen?

Offenbar nur daher, daß in den wirklichen Machtverhältnissen, die innerhalb der betreffenden Länder bestehen, eine Änderung eingetreten ist. Wäre keine solche Veränderung in den tatsächlichen Machtverhältnissen einer bestehenden Gesellschaft eingetreten, wären diese Machtverhältnisse noch die alten, so wäre es gar nicht denkbar und möglich, daß diese Gesellschaft ein Bedürfnis nach einer neuen Verfassung hätte. Sie würde bei der alten bleiben; höchstens die zerstreuten Teile derselben auf einer einzigen Urkunde zusammenstellen.

Wie tritt nun diese Änderung in den wirklichen Machtverhältnissen einer Gesellschaft ein?

Denken Sie sich beispielsweise im Mittelalter einen dünn bevölkerten Staat, wie dies damals fast alle Staaten waren, unter einem Fürsten stehend, und mit einem Adel, welchem der größere Teil des Grund und Bodens gehört. Infolge der dünnen Bevölkerung ist nur ein sehr geringfügiger Teil derselben für Industrie und Handel verwendbar, der bei weitem größte Teil der Bevölkerung ist noch erforderlich, den Boden zu bebauen, um die notwendigen Ackerbauprodukte zu erzeugen. Da der Grund und Boden zum größten Teil in den Händen des Adels ist, findet daselbst diese Bevölkerung in mannigfachen Abstufungen und Verhältnissen, teils als Lehnsleute, Hintersassen, Erbpächter dieses Adels usw. Verwendung und Beschäftigung; aber alle diese Verhältnisse treffen in dem einen überein, diese Bevölkerung vom Adel abhängig zu machen und sie zu nötigen, sein Lehnsgefolge zu bilden und seine Fehden mitzuschlagen. Mit dem Überschuß der Ackerbauprodukte, die er von seinen Gütern erlöst, hält sich der Adlige auf seinen Burgen noch Reisige und Knappen, Kriegsleute aller Art.

Der Fürst seinerseits hat dieser Macht des Adels gegenüber im wesentlichen keine andere tatsächliche Macht, als den Beistand derjenigen Adligen, welche den guten Willen haben – denn zwingen kann er sie schwer -, seinem Heeresaufgebot Folge zu leisten und die noch gar nicht der Rede werte Hilfe der wenigen und äußerst dünn bevölkerten Städte.

Wie, meine Herren, wird wohl die Verfassung eines solchen Staates beschaffen sein?

Nun, dies folgt ja mit Notwendigkeit aus den realen Machtverhältnissen dieses Landes, die wir soeben betrachtet haben.

Die Verfassung wird eine ständische, der Adel der erste und in jeder Hinsicht herrschende Stand sein. Der Fürst wird ohne seine Zustimmung nicht einen Kreuzer Steuern ausschreiben können, ja er wird zu den Adeligen keine andere Stellung haben, als der primus inter pares, als der Erste unter seines Gleichen.

Und, meine Herren, genauso ist die Verfassung Preußens und der meisten andern Staaten im Mittelalter gewesen. Jetzt setzen Sie aber den Fall: Die Bevölkerung vermehrt sich immer mehr, Industrie und Gewerbe fangen an zu blühen und geben dadurch die notwendigen Subsistenzmittel her für ein neues Steigen der Bevölkerung, welche die Städte zu füllen anfängt. Kapital und Geldreichtum fangen an, sich in den Händen des Bürgertums und der städtischen Gilden zu entwickeln. Was wird jetzt eintreten?

Nun, das Wachsen der städtischen Bevölkerung, die nicht vom Adel abhängig ist, deren Interessen diesem vielmehr gegenüberstehen, kommt zunächst dem Fürsten zugut; sie vermehrt die waffenfähigen Mannschaften, die ihm zu Gebote stehen; mit den Subsidien der Bürger und Gewerke, die von den beständigen adligen Fehden viel zu leiden haben und im Interesse von Handel und Produktion bürgerliche Ruhe und Sicherheit und eine geordnete Justiz im Lande wünschen müssen, also auch mit Geld und Mannschaften den Fürsten gern unterstützen, kann der Fürst, sooft er dessen benötigt ist, jetzt eine anständige und den ihm widerstrebenden Adligen weit überlegene Heermacht werben. Diese Fürsten werden daher jetzt die Macht des Adels immer mehr beschränken, ihm das Fehderecht entziehen; wenn er die Landesgesetze verletzt, seine Burgen brechen, und nachdem endlich im Lauf der Zeiten durch die Industrie der Geldreichtum und die Bevölkerung des Landes sich hinreichend entwickelt hat, um den Fürsten in den Stand zu setzen, ein stehendes Heer zu bilden, wird dieser Fürst die Regimenter gegen das Ständehaus rücken lassen, wie der Große Kurfürst oder wie Friedrich Wilhelm I. mit dem Ausruf: je stabilirai die Souveränität wie einen rocher de bronze, die Taxenfreiheit des Adels aufheben und dem Steuerbewilligungsrecht des Adels ein Ende machen.

Sie sehen, meine Herren, wie hier wieder mit der Änderung der realen Machtverhältnisse eine Änderung der Verfassung eingetreten ist; es ist jetzt das absolute Fürsten- oder Königtum entstanden.

Der Fürst hat nun nicht nötig, die neue Verfassung zu schreiben; dazu ist das Fürstentum ein viel zu praktisches Ding. Der Fürst hat in den Händen das reale, tatsächliche Machtmittel, das stehende Heer, welches die wirkliche Verfassung dieser Gesellschaft bildet, und der Fürst und sein Anhang spricht dies im Laufe der Zeit selbst aus, indem er das Land einen „Militärstaat“ nennt.

Der Adel, der entfernt nicht mehr imstande ist, mit dem Fürsten zu konkurrieren, hat es nun seit langem aufgeben müssen, ein eigenes Waffengefolge zu haben. Er hat seinen alten Gegensatz zum Fürsten und daß er seines Gleichen war, vergessen, hat sich von seinen früheren Burgen großenteils an die Residenz begeben, dort Pensionen beziehend und den Glanz und das Ansehen des Fürsten vermehrend.

Industrie und Gewerbe entwickeln sich aber immer mehr und mehr; mit dieser Blüte steigt und steigt die Bevölkerung.

Es scheint, daß dieser Fortschritt immer nur dem Fürsten zugute kommen muß, der sein stehendes Heer dadurch beständig vergrößern kann und dazu kommt, eine Weltstellung einzunehmen.

Aber endlich tritt eine so ungeheure, so riesenhafte Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft ein, daß der Fürst jetzt nicht mehr vermag, auch nicht durch das Mittel des stehenden Heeres, im gleichen Verhältnis an diesem Machtfortschritt des Bürgertums teilzunehmen.

Einige wenige Zahlen, meine Herren, werden Ihnen das recht sinnlich klarmachen.

Im Jahre 1657 hatte Berlin 20.000 Einwohner. Ungefähr in derselben Zeitperiode beim Tode des Großen Kurfürsten betrug die Armee zwischen 24.000 bis 30.000 Mann.

Im Jahre 1803 hat Berlin bereits 153.070 Einwohner.

Im Jahre 1819, sechzehn Jahre später, hat Berlin bereits 192.646 Einwohner.

In diesem Jahre 1819 betrug das stehende Heer – Sie wissen, daß nach dem zur Zeit noch bestehenden Gesetz vom September 1814, das man uns jetzt entreißen will, die Landwehr nicht zum stehenden Heere gehört -, im Jahre 1819 also betrug das stehende Heer 137.639 Mann.

Wie Sie sehen, war das stehende Heer jetzt viermal so groß geworden als zur Zeit des Großen Kurfürsten.

Die Einwohnerzahl von Berlin aber war über neunmal so groß geworden als damals.

Eine noch ganz andere Entwicklung aber beginnt jetzt.

Im Jahre 1846 beträgt – die Zahlen sind überall aus amtlichen Listen genommen – die Bevölkerung von Berlin 389.308 Einwohner, also beinahe 400.000, also noch einmal soviel als im Jahre 1819. In 27 Jahren hatte sich die Einwohnerzahl der Stadt – jetzt beträgt sie, wie Sie wissen, schon zirka 550.000 Einwohner – mehr als verdoppelt.

Das stehende Heer betrug dagegen im Jahre 1846 wieder nur 138.810 Mann, gegen die 137.639 von 1819. Es war also stehen geblieben, weit entfernt, diese riesenhafte Entwicklung des Bürgertums mitmachen zu können.

Mit einer so riesenhaften Entwicklung des Bürgertums beginnt dasselbe sich als eine selbständige politische Macht zu fühlen. Hand in Hand mit dieser Entwicklung der Bevölkerung geht eine noch großartigere Entwicklung des gesellschaftlichen Reichtums; geht ferner eine ebenso großartige Entwicklung der Wissenschaften und der allgemeinen Bildung des allgemeinen Bewußtseins vor sich, dieses andern Stücks Verfassung, von dem wir gleichfalls bereits gesprochen haben. Die Bürger sagen sich jetzt: wir wollen nicht länger eine willenlos beherrschte Menge sein, wir wollen selbst herrschen und der Fürst selbst soll nur nach unserem Willen uns beherrschen und unsere Angelegenheiten leiten.

Kurz, meine Herren, die realen tatsächlichen Machtverhältnisse, die in diesem Lande bestehen, haben sich wieder verändert. Oder mit anderen Worten: in einer solchen Gesellschaft tritt – der 18. März 1848 ein!

Sie sehen, meine Herren, daß hiermit in der Tat ganz das geschehen ist, was wir am Anfang unsrer Entwicklung als ein unmögliches Beispiel unterstellten. Wir unterstellten damals den Fall, die Gesellschaft verlöre ihre Gesetze durch eine Feuersbrunst. Nun, sind sie nicht durch Feuer untergegangen, so sind sie durch den Sturmwind untergegangen.

„Das Volk stand auf, Der Sturm brach los.“

Wenn in einer Gesellschaft eine siegreiche Revolution eingetreten ist, so dauert zwar das Privatrecht fort, aber alle Gesetze des öffentlichen Rechts liegen am Boden oder haben nur provisorische Bedeutung und sind neu zu machen.

Jetzt trat also die Notwendigkeit ein, eine neue geschriebene Verfassung zu machen, und der König selbst berief nun die Nationalversammlung nach Berlin, um die neue geschriebene Verfassung festzustellen, wie es zuerst hieß oder, wie es später hieß, um sie mit ihm zu vereinbaren.

Wann ist nun eine geschriebene Verfassung eine gute und dauerhafte?

Nun offenbar nur in dem einen Fall, meine Herren, wie jetzt aus unserer ganzen Entwicklung von selbst folgt, wenn sie der wirklichen Verfassung, den realen, im Lande bestehenden Machtverhältnissen entspricht. Wo die geschriebene Verfassung nicht der wirklichen entspricht, da findet ein Konflikt statt, dem nicht zu helfen ist und bei dem unbedingt auf die Dauer die geschriebene Verfassung, das bloße Blatt Papier, der wirklichen Verfassung, den tatsächlich im Lande bestehenden Machtverhältnissen, erliegen muß.

Was hätte also damals geschehen müssen?

Nun, man hätte vor allen Dingen nicht geschriebene, sondern wirkliche Verfassung machen müssen, das heißt also die im Lande bestehenden realen Machtverhältnisse hätten geändert, zugunsten der Bürger geändert werden müssen.

Zwar hatte sich soeben am 18.März gezeigt, daß die Macht der Nation allerdings schon jetzt größer sei als die Macht des stehenden Heeres. Nach einem langen und blutigen Kampf hatten sich die Truppen zurückziehen müssen.

Allein ich habe Sie bereits früher auf den wichtigen Umstand aufmerksam gemacht, der zwischen der Macht der Nation und der Macht des stehenden Heeres besteht und welcher zur Folge hat, daß die, wenn auch in Wahrheit kleinere, Macht des stehenden Heeres auf die Dauer dennoch wirksamer ist, als die – wenn auch in Wahrheit ‚ größere Macht der Nation.

Dieser Unterschied besteht, wie Sie sich erinnern, darin, daß die Macht der Nation eine unorganisierte ist, die Macht des stehenden Heeres aber eine organisierte, welche täglich parat steht, den Kampf wieder aufzunehmen und auf die Dauer daher wirksamer sein und das Feld behaupten muß gegen die, wenn auch größere, aber unorganisierte Macht der Nation, welche nur in seltenen Augenblicken großer Erregung sich zusammenballt.

Sollte also der am 18.März erfochtene Sieg nicht notwendig wieder resultatlos werden für das Volk, so mußte der siegreiche Augenblick benutzt werden, um die organisierte Macht des stehenden Heeres derart umzugestalten, daß sie nicht wieder als ein bloßes Machtmittel des Fürsten gegen die Nation verwendet werden konnte.

Es müßte z. B. die Dienstzeit des Soldaten auf sechs Monate beschränkt werden, eine Zeit, welche einerseits nach dem Ausspruch der größten militärischen Autoritäten vollkommen hinreicht, um dem Soldaten die vollkommenste militärische Ausbildung beizubringen, und welche andrerseits zu kurz ist, um dem Soldaten einen besonderen Kastengeist einflößen zu können; eine Zeitdauer, deren Kürze vielmehr eine solche beständige Erneuerung des Heeres aus dem Volke nach sich zieht, daß dadurch das Heer erst aus einem Fürstenheer zu einem Volksheere wird.

Man müßte ferner bestimmen, daß alle niederen Offiziere bis mindestens zum Major inklusive, nicht von oben herab ernannt, sondern von den Truppenkörpern selbst gewählt würden, damit auch die Offiziersstellen nicht in einem volksfeindlichen Sinne besetzt werden und hierdurch dazu beitragen könnten, das Heer in ein blindes Instrument der Fürstenmacht zu verwandeln.

Man müßte ferner das Heer für alle nicht speziell militärischen Vergehen unter die gewöhnlichen bürgerlichen Gerichte stellen, damit es auch hierdurch sich als ein Gemeinsames mit dem Volke und nicht als etwas Apartes, als eine besondere Kaste betrachten lerne.

Man müßte ferner alles Geschütz, die Kanonen, die ja nur zur Landesverteidigung dienen sollen und, soweit sie nicht unumgänglich zu militärischen Übungen nötig, in den Verwahr der städtischen, vom Volke gewählten Behörden stellen. Mit einem Teile dieser Artillerie mußte man ferner Artillerie-Sektionen der Bürgerwehr bilden, um so auch die Kanonen, dieses so wichtige Stück Verfassung, in die Macht des Volkes zu bringen.

Von alle diesem, meine Herren, ist im Frühjahr, im Sommer 1848 nichts geschehen, und können Sie sich daher wundern, wenn die Märzrevolution im November 1848 wieder rückgängig gemacht wurde und resultatlos blieb? Gewiß nicht, es war dies eben eine notwendige Folge davon, daß jede Änderung der realen tatsächlichen Machtverhältnisse unterblieben war.

Die Fürsten, meine Herren, sind viel besser bedient als Sie! Die Diener des Fürsten sind keine Schönredner, wie es die Diener des Volkes oft sind. Aber es sind praktische Leute, die den Instinkt haben, worauf es ankommt, Herr von Manteuffel war gewiß kein großer Redner. Aber er war ein praktischer Mann! Als er im November 1848 die Nationalversammlung gesprengt und die Kanonen auf den Straßen aufgefahren hatte – womit fing er da an? Mit dem Niederschreiben einer reaktionären Verfassung etwa? O Gott behüte, dazu nahm er sich Zeit! Er gab Ihnen sogar selbst im Dezember 1848 eine ziemlich liberal geschriebene Verfassung. Womit fing er damals im November sofort an, welches war seine erste Maßregel? Nun, meine Herren, Sie erinnern sich dessen ja: er begann damit, die Bürger zu entwaffnen, ihnen die Waffen abzunehmen. Sehen Sie, meine Herren, den Besiegten entwaffnen, das ist die Hauptsache für den Sieger, wenn er nicht will, daß sich der Kampf jeden Augenblick wieder erneuern soll.

Im Anfang unserer Untersuchung, meine Herren, sind wir sehr langsam zu Werke gegangen, um erst den Begriff der Verfassung zu haben. Vielleicht schien es selbst damals manchen zu langsam. Dafür aber werden Sie bereits seit langem selbst bemerkt haben, wie sich, seit wir diesen Begriff hatten, Schlag auf Schlag die überraschendsten Konsequenzen entrollten, und wie wir jetzt die Dinge viel besser, viel klarer und ganz anders wußten als die andern, ja daß wir eigentlich zu Konsequenzen gekommen sind, die dem, was man in der öffentlichen Meinung hierüber anzunehmen pflegt, meistens ganz entgegengesetzt sind.

Wir wollen rasch noch einige dieser Konsequenzen betrachten.

Ich habe soeben gezeigt, daß im Jahre 1848 keine von jenen Maßregeln ergriffen wurden, welche notwendig gewesen wären, die tatsächlich im Lande bestehenden Machtverhältnisse zu ändern, das Heer aus einem Fürstenheer zu einem Volksheer zu machen.

Ein hierauf hinzielender, und den ersten Schritt auf dieser Bahn bildender Antrag wurde in der Tat gestellt, der Steinsche Antrag, der dahin ging, das Ministerium zu einem Armeebefehl zu drängen, welcher den Zweck hatte, daß alle reaktionären Offiziere ihre Entlassung nehmen sollten.

Aber Sie erinnern sich, meine Herren, kaum hatte die Nationalversammlung in Berlin diesen Antrag genehmigt, als die ganze Bourgeoisie und das halbe Land schrie: die Nationalversammlung solle die Verfassung machen, nicht das Ministerium quängeln, nicht mit Interpellationen die Zeit verlieren, nicht mit Sachen, welche die Exekutive angingen; Verfassung machen, nur Verfassung machen, schrie man, als ob es brennte!

Sie sehen, meine Herren, die ganze Bourgeoisie, das halbe Land, das so schrie, verstand ganz und gar nichts von dem Wesen einer Verfassung!

Eine geschriebene Verfassung machen, das war das wenigste, das ist, wenn es sein muß, in dreimal vierundzwanzig Stunden getan, das war das letzte von allem; damit war, wenn sie vorzeitig kam, auch nicht das allergeringste getan.

Die wirklichen, tatsächlichen Machtverhältnisse im Lande umgestalten, in die Exekutive eingreifen, so sehr eingreifen und sie tatsächlich so sehr umformen, daß sie sich nie wieder selbständig dem Willen der Nation entgegenstellen konnte -, das war es, worauf es damals ankam und was vorausgehen mußte, damit eine geschriebene Verfassung von Dauer sein konnte.

Da es nicht zeitig genug geschah, ließ man der Nationalversammlung nicht einmal Zeit, eine Verfassung zu machen, man jagte sie fort mit den ungebrochenen Machtmitteln jener Exekutive.

Zweite Konsequenz. Setzen Sie den Fall, man hätte die Nationalversammlung damals nicht fortgejagt und diese wäre wirklich dazu gelangt, eine Verfassung auszuarbeiten und zu beschließen.

Hätte das am Lauf der Dinge etwas Wesentliches geändert?

Gott behüte, meine Herren, und der Beweis dafür liegt ja in den Tatsachen selbst. Die Nationalversammlung wurde zwar fortgejagt, aber der König selbst proklamierte aus den hinterlassenen Papieren der Nationalversammlung am 5. Dezember 1848 eine Verfassung, die in den meisten Punkten in der Tat ganz der Verfassung entspricht, die wir in der Nationalversammlung zu erwarten gehabt hätten.

Jetzt also wurde diese Verfassung vom König selbst proklamiert, nicht ihm aufgedrungen, sondern von ihm, wie er als Sieger dastand, freiwillig erlassen. Jetzt also, scheint es, hätte diese Verfassung doch um so mehr auf Lebensfähigkeit rechnen sollen!

Gott behüte, meine Herren! Ganz unmöglich! Wenn Sie in Ihrem Garten einen Apfelbaum haben und hängen nun an denselben einen Zettel, auf den Sie schreiben: dies ist ein Feigenbaum, ist denn dadurch der Baum zum Feigenbaum geworden? Nein, und wenn Sie Ihr ganzes Hausgesinde, ja alle Einwohner des Landes herum versammelten und laut und feierlich beschwören ließen: dies ist ein Feigenbaum – der Baum bleibt, was er war, und im nächsten Jahr, da wird sich’s zeigen, da wird er Äpfel tragen und keine Feigen.

Ebenso wie wir gesehen haben mit der Verfassung. Was auf das Blatt Papier geschrieben wird, ist ganz gleichgültig, wenn es der realen Lage der Dinge, den tatsächlichen Machtverhältnissen widerspricht.

Der König hatte sich auf dem Blatt Papier vom 5. Dezember 1848 von selbst zu einer großen Anzahl Konzessionen verstanden, die aber alle der wirklichen Verfassung widersprachen, nämlich den realen tatsächlichen Machtmitteln, die der König ungeschwächt in seiner Hand behielt. Mit derselben Notwendigkeit, die im Gesetze der Schwerkraft liegt, mußte daher die wirkliche Verfassung es Schritt für Schritt über die geschriebene Verfassung durchsetzen.

So mußte der König, obgleich die Verfassung vom 5. Dezember 1848 von der Revisionsversammlung angenommen war, sofort die erste Umänderung, das oktroyierte Dreiklassenwahlrecht von 1849, vornehmen. Mit Hilfe der durch dieses Wahlgesetz erzeugten Kammer mußten weiter die wesentlichsten Verfassungsänderungen vorgenommen werden, damit sie nur im Jahre 1850 vom König beschworen werden konnte, und nachdem sie beschworen war, begann das Umändern erst recht! Jedes Jahr ist auch seit 1850 mit solchen Umänderungen bezeichnet. Keine Fahne, die hundert Schlachten mitgemacht hat, kann so zerfetzt und durchlöchert sein wie unsere Verfassung!

Dritte Konsequenz. Sie wissen, meine Herren, es gibt in unserer Stadt eine Partei, deren Organ die Volkszeitung ist – eine Partei, sage ich, die sich dennoch mit fieberhafter Angst um diesen Fahnenstummel, um unsere durchlöcherte Verfassung schart, eine Partei, die sich daher die „Verfassungstreuen“ nennt und deren Feldgeschrei ist: „Laßt uns an der Verfassung halten, um Gottes willen die Verfassung, die Verfassung,Hilfe,Rettung,es brennt,es brennt!“

Meine Herren, sooft Sie, gleichviel wo und wann, sehen, daß eine Partei auftritt, welche zu ihrem Feldgeschrei den Angstruf macht, „sich um die Verfassung scharen“ – was werden Sie hieraus schließen können? Ich frage Sie, meine Herren, hier nicht als wollende Menschen; ich richte meine Frage nicht an Ihren Willen. Ich frage Sie lediglich als denkende Menschen: was werden Sie aus dieser Erscheinung schließen müssen?

Nun, meine Herren, Sie werden sich, ohne Propheten zu sein, in einem solchen Falle immer mit größter Sicherheit sagen können: diese Verfassung liegt in ihren letzten Zügen; sie ist schon so gut wie tot, einige Jahre noch, und sie existiert nicht mehr.

Die Gründe sind einfach. Wenn eine geschriebene Verfassung den tatsächlichen im Lande bestehenden Machtverhältnissen entspricht, da wird dieser Schrei nie ausgestoßen werden. Einer solchen Verfassung bleibt jeder von selbst drei Schritte vom Leibe und hütet sich, ihr nahezutreten. Mit einer solchen Verfassung fällt es keinem Menschen ein, anzubinden; er würde andernfalls sehr schlecht wegkommen. Wo die geschriebene Verfassung den realen tatsächlichen Machtverhältnissen entspricht, da wird die Erscheinung gar nicht vorkommen können, daß eine Partei ihren besondern Feldruf aus dem Festhalten an der Verfassung macht. Wo dieser Ruf ausgestoßen wird, ist dies ein sicheres und untrügliches Zeichen, daß er ein Angstruf ist; mit andern Worten: daß in der geschriebenen Verfassung immer noch etwas ist, was der wirklichen Verfassung, den tatsächlichen Machtverhältnissen, widerspricht. Und wo dieser Widerspruch einmal da ist, da ist die geschriebene Verfassung – kein Gott und kein Schreien kann ihr helfen – immer unrettbar verloren!

Sie kann auf entgegengesetzte Weise abgeändert werden, nach rechts oder links hin, aber bleiben kann sie nicht. Der Ruf grade, sie festzuhalten, beweist es für den klaren denkenden Menschen. Sie kann nach rechts hin abgeändert werden, indem die Regierung diese Änderung vornimmt, um die geschriebene Verfassung in Übereinstimmung mit den tatsächlichen Machtverhältnissen der organisierten Macht der Gesellschaft zu setzen. Oder aber es tritt die unorganisierte Macht der Gesellschaft auf und beweist von neuem, daß sie größer ist als die organisierte. In diesem Falle wird die Verfassung wieder ebensoweit nach links hin abgeändert und aufgehoben, wie vorhin nach rechts. Aber verloren ist sie in jedem Falle.

Wenn Sie, meine Herren, den Vortrag, den ich Ihnen zu halten die Ehre hatte, nicht nur festhalten und sorgfältig durchdenken, sondern ihn zu allen seinen Konsequenzen fortdenkend entwickeln, so werden Sie zum Besitz aller Verfassungskunst und aller Verfassungsweisheit gelangen. Verfassungsfragen sind ursprünglich nicht Rechtsfragen, sondern Machtfragen; die wirkliche Verfassung eines Landes existiert nur in den reellen tatsächlichen Machtverhältnissen, die in einem Lande bestehen; geschriebene Verfassungen sind nur dann von Wert und Dauer, wenn sie der genaue Ausdruck der wirklichen in der Gesellschaft bestehenden Machtverhältnisse sind – das sind die Grundsätze, die Sie festhalten wollen. Ich habe Ihnen diese Grundsätze heut nur mit besonderer Beleuchtung der Heeresmacht entwickelt – einmal, weil die Kürze der Zeit nicht mehr erlaubte, zweitens weil das Heer das entscheidendste und wichtigste aller organisierten Machtmittel ist. Sie begreifen aber von selbst, daß es sich nur ganz ähnlich mit der Organisation der Justizbeamten, der Verwaltungsbeamten usw. verhält; diese sind gleichfalls die organisierten Machtmittel einer Gesellschaft. Halten Sie diesen Vortrag fest, so werden Sie, meine Herren, wenn Sie je wieder in die Lage kommen, sich selbst eine Verfassung zu geben, wissen, wie man da zu verfahren hat und wie nicht mit dem Vollschreiben eines Blattes Papier, sondern nur damit etwas getan ist, wenn man an den tatsächlichen Machtverhältnissen ändert.

Bis dahin und einstweilen, zum Tagesgebrauch, werden Sie aber aus diesem Vortrag auch von selbst erfahren haben, meine Herren, ohne daß ich mit einem Worte davon gesprochen, aus welchem Bedürfnis die neuen Militärvorlagen hervorgegangen sind, die Heeresvermehrung, die man von Ihnen fordert. Sie werden von selbst dazu gekommen sein, den Finger auf den innersten Quellpunkt zu legen, aus welchem die Vorlagen entsprungen.

Das Fürstentum, meine Herren, hat praktische Diener, nicht Schönredner, aber praktische Diener, wie sie Ihnen zu wünschen wären.

Zum Anfang dieser Seite