Die zweite Abhandlung über die Regierung (The Second Treatise of Government)

Aus dem Text:

„…. Das erste und grundlegende positive Gesetz aller Staaten ist daher die Begründung der legislativen Gewalt – so wie das erste und grundlegende natürliche Gesetz, welches selbst über der legislativen Gewalt gelten muß, die Erhaltung der Gesellschaft und….jeder einzelnen Person in ihr ist. Diese legislative Gewalt ist nicht nur die höchste Gewalt des Staates, sondern sie liegt auch geheiligt und unabänderlich in jenen Händen, in die die Gemeinschaft sie einmal gelegt hat. Keine Vorschrift irgendeines anderen Menschen, in welcher Form sie auch verfaßt, von welcher Macht sie auch gestützt sein mag, kann die Verpflichtungskraft eines Gesetzes haben, wenn sie nicht durch jene Legislative sanktioniert ist, die von der Allgemeinheit gewählt und ernannt worden ist ….“

 

John Locke

Die zweite Abhandlung über die Regierung

(The Second Treatise of Government)

(1690)

[Auszug (Kurzzitat) aus der Ausgabe von Philipp Reclam jun. GmbH & Co. , Stuttgart 1974]

 

[……]

XI

Das Ausmaß der gesetzgebenden Gewalt

134. Das große Ziel, mit welchem die Menschen in eine Gesellschaft eintreten, ist der Genuß ihres Eigentums in Frieden und Sicherheit, und das große Werkzeug und Mittel dazu sind die Gesetze, die in dieser Gesellschaft erlassen worden sind. Das erste und grundlegende positive Gesetz aller Staaten ist daher die Begründung der legislativen Gewalt – so wie das erste und grundlegende natürliche Gesetz, welches selbst über der legislativen Gewalt gelten muß, die Erhaltung der Gesellschaft und (Soweit es vereinbar ist mit dem öffentlichen Wohl) jeder einzelnen Person in ihr ist. Diese legislative Gewalt ist nicht nur die höchste Gewalt des Staates, sondern sie liegt auch geheiligt und unabänderlich in jenen Händen, in die die Gemeinschaft sie einmal gelegt hat. Keine Vorschrift irgendeines anderen Menschen, in welcher Form sie auch verfaßt, von welcher Macht sie auch gestützt sein mag, kann die Verpflichtungskraft eines Gesetzes haben, wenn sie nicht durch jene Legislative sanktioniert ist, die von der Allgemeinheit gewählt und ernannt worden ist. Ohne sie könnte das Gesetz nämlich nicht haben, was absolut notwendig ist, um es zum Gesetz zu machen, nämlich die Zustimmung der Gesellschaft. Der Gesellschaft Gesetze zu geben, kann niemand Gewalt haben, es sei denn kraft ihrer eigenen Zustimmung und der Autorität, die ihr von ihren Gliedern verliehen wurde. Aller Gehorsam, den irgendein Mensch durch die heiligsten Bande zu leisten verpflichtet sein kann, endet folglich zuletzt in dieser höchsten Gewalt und ist jenen Gesetzen unterstellt, die diese Gewalt beschließt. Keinerlei Eid, der irgendeiner fremden Gewalt geleistet wurde, und auch keinerlei heimische untergeordnete Gewalt kann irgendein Glied der Gesellschaft von seinem Gehorsam gegenüber der Legislative entbinden, wenn sie dem in sie gesetzten Vertrauen gemäß handelt, oder ihn zu irgendwelchem Gehorsam verpflichten, der wider die so beschlossenen Gesetze gewandt ist oder weiter reicht, als sie es zulassen. Ist es doch lächerlich anzunehmen, man könnte verpflichtet sein, letztlich irgendeiner Gewalt in der Gesellschaft zu gehorchen, die nicht die höchste ist. [……]

142. Dies sind die Grenzen, die der legislativen Gewalt eines jeden Staates gleich welcher Regierungsform durch jenes Vertrauen gesetzt sind, welches die Gesellschaft und das Gesetz Gottes und der Natur in sie gelegt haben.

· Zum ersten muß sie nach öffentlich bekanntgemachten festen Gesetzen regieren, die nicht für besondere Fälle geändert werden dürfen, sondern nur ein Maß anlegen für Reich und Arm, für den Günstling bei Hof wie für den Landmann am Pflug.

· Zum zweiten sollten diese Gesetze auf kein anderes letztes Ziel als das Wohl des Volkes ausgerichtet sein.

· Zum dritten darf sie keine Steuern auf das Eigentum des Volkes erheben ohne die von ihnen selbst oder durch Abgeordnete erteilte Zustimmung des Volkes. Und dies betrifft eigentlich nur jene Regierungen, in denen sich die Legislative dauernd im Amte befindet oder wo doch jedenfalls das Volk die legislative Gewalt nicht teilweise Abgeordneten vorbehalten hat, die von Zeit zu Zeit von ihm selbst gewählt werden.

· Zum vierten darf und kann die Legislative die Gewalt, Gesetze zu geben, nicht auf irgend jemand anders übertragen, und sie kann sie nirgendwo anders hinlegen als dort, wohin sie das Volk gelegt hat. [……]

XIII

Die Gewaltenordnung im Staat

149. Obwohl es in einem verfaßten Staatswesen, welches auf eigener Grundlage steht und der eigenen Natur gemäß handelt, d. h. zur Erhaltung der Gemeinschaft, nur eine höchste Gewalt geben kann, die Legislative, der alle übrigen Gewalten untergeordnet sind und sein müssen, ist doch die Legislative nur eine Gewalt, die treuhänderisch zu bestimmten Zwecken handelt, und es verbleibt dem Volk dennoch die höchste Gewalt, die Legislative abzuberufen oder zu ändern, wenn es der Meinung ist, daß sie dem in sie gesetzten Vertrauen zuwiderhandelt. Denn aller Gewalt, die im Vertrauen auf ein bestimmtes Ziel verliehen wird, sind durch jenes Ziel die Grenzen gesetzt, und immer wenn dieses Ziel offenkundig vernachlässigt oder ihm zuwider gehandelt wird, ist dieses Vertrauen notwendigerweise verwirkt, und die Gewalt fällt zurück in die Hände derjenigen, die sie verliehen haben und die sie dann von neuem so vergeben können, wie es ihnen für ihren Schutz und ihre Sicherheit am besten erscheint. So behält sich die Gemeinschaft beständig die höchste Gewalt vor, um sich vor den Angriffen und Anschlägen jeder Körperschaft, selbst ihrer Gesetzgeber, zu sichern, sooft diese so töricht oder verwerflich sein sollten, Anschläge gegen Freiheit und Eigentum der Untertanen zu planen und zu unternehmen. [……]

XIV

Die Prärogative

159. Wo die gesetzgebende und die exekutive Gewalt in verschiedenen Händen liegen (wie in allen gemäßigten Monarchien und wohlgeordneten Regierungen), dort verlangt es das Wohl der Gesellschaft, daß einige Angelegenheiten dem Willen desjenigen überlassen bleiben, der sich im Besitz der exekutiven Gewalt befindet. Weil nämlich die Gesetzgeber nicht alles, was der Gemeinschaft nützlich sein könnte, voraussehen und gesetzlich regeln können, hat der Vollzieher der Gesetze, in dessen Händen die Macht liegt, nach dem allgemeinen Naturgesetz in vielen Fällen, wo das Gesetz des Staates keine Richtlinien gibt, das Recht, diese Macht zum Wohl der Gesellschaft so lange zu gebrauchen, bis die Legislative in angemessener Form versammelt werden kann, um sich damit zu befassen. Es gibt viele Dinge, für die das Gesetz keinerlei Vorsorge treffen kann und die deshalb notwendigerweise der Entscheidung desjenigen überlassen bleiben müssen, in dessen Händen die exekutive Gewalt liegt, damit er darüber verfüge, wie es das öffentliche Wohl und der öffentliche Vorteil verlangen. Ja, die Gesetze sollten sogar in manchen Fällen der Exekutive oder vielmehr jenem grundlegenden Gesetz der Natur und der Regierung, daß soweit als möglich alle Glieder der Gesellschaft erhalten werden müssen, den Vorrang lassen. Da nämlich viele Ereignisse eintreten mögen, bei denen eine strenge und starre Befolgung der Gesetze von Schaden sein kann (wenn man z. B. nicht das Haus eines unschuldigen Menschen abreißen würde, um das Feuer einzudämmen, wenn das benachbarte Haus in Flammen steht) und man zuweilen mit einer Handlung, die Belohnung und Verzeihung verdienen mag, in die Maschen des Gesetzes geraten kann, welches keinen Unterschied der Person kennt, sollte der Herrscher die Macht haben, in vielen Fällen die Härte des Gesetzes zu mildern und manche Übeltäter zu begnadigen. Denn da das Ziel der Regierung die Erhaltung aller ist, soweit dies möglich ist, sollte selbst der Schuldige geschont werden, wo es ohne Schaden für den Unschuldigen geschehen kann.

160. Diese Macht, ohne Gesetzesvorschfift bisweilen sogar gegen das Gesetz zum öffentlichen Wohl nach dem eigenen Ermessen zu handeln, bezeichnen wir als Prärogative. In einigen Regierungen übt die gesetzgebende Gewalt ihre Funktion nicht ständig aus, und sie liegt gewöhnlich in zu vielen Händen und arbeitet deshalb für die erforderte rasche Abwicklung des Vollzugs zu langsam. Sie kann auch unmöglich alle möglicherweise die Offentlichkeit berührenden Ereignisse und Bedürfnisse voraussehen und mit dem Gesetz dafür Vorsorge treffen oder Gesetze geben, die bei jedem Anlaß und gegen alle Personen, die mit ihnen in Berührung kommen sollten, mit unbeugsamer Strenge vollzogen werden könnten, ohne Schaden anzurichten. Der exekutiven Gewalt wird daher ein Spielraum gelassen, vieles nach eigenem Ermessen zu entscheiden, wofür das Gesetz keine Vorschrift gibt.

161. Solange diese Gewalt zum Wohle der Gemeinschaft angewandt wird und gemäß dem in die Regierung gesetzten Vertrauen und ihren Zielen, handelt es sich unzweifelhaft um Prärogativgewalt und wird niemals in Frage gestellt. Denn das Volk nimmt es höchst selten oder nie sehr genau in diesem Punkt. Es ist weit entfernt, die Prärogative in Frage zu stellen, solange sie in irgend erträglichem Maße zu dem Zweck gebraucht wird, zu dem sie beabsichtigt war, d. h. zum Wohle des Volkes und nicht offenkundig gegen es. Wenn aber zwischen Exekutive und Volk über irgend etwas, was als Prärogative in Anspruch genommen wird, eine Frage aufkommt, so wird die Tendenz der Ausübung einer solchen Prärogative zum Wohl oder zum Schaden des Volkes diese Frage leicht entscheiden. [……]

164. Da man aber nicht annehmen kann, daß ein vernunftbegabtes Wesen, solange es frei ist, sich zu seinem eigenen Schaden einem anderen untertan macht (obwohl man es unter einem guten und weisen Herrscher vielleicht weder für notwendig noch für nützlich halten mag, seiner Gewalt in allem genaue Grenzen zu setzen), kann auch die Prärogativgewalt nichts anderes sein als die den Herrschern erteilte Erlaubnis des Volkes, wo das Gesetz schweigt, verschiedene Dinge nach ihrem eigenen freien Ermessen zu tun und zuweilen zum Wohle des Volkes auch gegen den ausdrücklichen Buchstaben des Gesetzes zu handeln, sowie die Einwilligung des Volkes dazu, wenn das geschehen war. Ein guter Fürst nämlich, eingedenk des in seine Hände gelegten Vertrauens und auf das Wohl seines Volkes bedacht, kann gar nicht genug Prärogativgewalt, d. h. Macht, Gutes zu tun, haben. Wenn aber ein schwacher und schlechter Fürst diese Gewalt, welche seine Vorgänger ohne die Weisung der Gesetze ausgeübt hatten, für sich beanspruchen wollte als eine ihm durch das Recht seines Amtes eigene Prärogativgewalt, die er nach Belieben gebrauchen kann, um sich ein vom Volk gesondertes Interesse zu schaffen oder es zu fördern, so gäbe er dem Volke Anlaß, sein Recht zu fordern und jene Gewalt einzuschränken, der es gern schweigend zugestimmt hatte, solange sie zu seinem Wohl ausgeübt wurde. [……]

168. Es wird hier bezüglich der Prärogative die alte Frage gestellt werden: Wer aber soll entscheiden, wann diese Gewalt richtig ausgeübt wird? Ich antworte: Zwischen einer ständigen Exekutive mit einer solchen Prärogativgewalt und einer Legislative, deren Zusammentreten von dem Willen der Exekutive abhängig ist, kann es keinen Richter auf Erden geben wie es auch zwischen der Legislative und dem Volk keinen solchen Richter geben kann für den Fall, daß die Exekutive oder die Legislative, sobald sie die Macht in den Händen hielten, beabsichtigten oder sich anschickten, das Volk zu knechten oder zu vernichten. In diesem wie in allen anderen Fällen, in denen das Volk keinen Richter auf Erden hat, bleibt ihm kein anderes Heilmittel, als den Himmel anzurufen. Denn die Herrscher gebrauchen bei derartigen Unternehmungen eine Gewalt, die ihnen das Volk niemals in die Hände gelegt hat (denn es dürfte schwerlich jemals seine Zustimmung geben, daß irgend jemand zu seinem Schaden über es herrschen sollte), und tun, wozu sie kein Recht haben. Und wo das Volk insgesamt oder irgendein einzelner seiner Rechte beraubt wird oder einer unrechtmäßigen Gewaltausübung unterworfen ist und keinerlei Berufungsmöglichkeit auf Erden hat, da steht es ihm frei, den Himmel anzurufen, wann immer der Anlaß gewichtig genug erscheint. Wenn auch das Volk also nicht Richter sein kann, d. h. nach der Verfassung jener Gesellschaft keinerlei höhere Gewalt besitzt, den Fall zu entscheiden und ein wirksames Urteil zu sprechen, so hat es sich doch nach einem Gesetz, welches allen positiven Gesetzen der Menschen voransteht und über sie erhaben ist, jene letzte Entscheidung vorbehalten, die aller Menschheit zukommt, wo keine Berufungsmöglichkeit auf Erden zu finden ist: nämlich zu urteilen, ob sie gerechte Ursache haben, den Himmel anzurufen. Dieser Urteilsfreiheit können sie sich nicht begeben, denn es steht außerhalb der menschlichen Macht, sich einem anderen so zu unterwerfen, daß man ihm die Freiheit zur eigenen Vernichtung gibt. Gott wie auch die Natur erlauben dem Menschen niemals, sich so aufzugeben, daß er seine Selbsterhaltung vernachlässigt. Und da er sich selbst sein Leben nicht nehmen darf, kann er auch niemandem sonst die Macht dazu geben. Man darf aber nicht glauben, daß dies den Grund für fortwährende Unordnung lege; denn es wird erst dann wirksam, wenn die Übelstände so groß sind, daß die Mehrheit sie fühlt und ihrer überdrüssig wird und es für notwendig hält, sie zu beheben. Die exekutive Gewalt oder weise Fürsten aber brauchen niemals in diese Gefahr zu geraten; und es ist das, was sie von allem am stärksten vermeiden müssen, denn von allem ist es das Gefährlichste. [……]

Anmerkung:

Auf die „alte Frage“: Wer aber soll entscheiden, wann die Exekutivgewalt richtig ausgeübt wird? wusste Locke noch keine irdische Antwort. Er empfahl die Anrufung des Himmels (oben 168.).

An dieser Stelle setzten seine Nachfolger an (z.B. Montesquieu und Kant). Sie vollendeten die klassische Gewaltenteilungslehre. Ihre Forderung: Über die Einhaltung der Gesetze soll eine von Legislative und Exekutive unabhängige dritte Staatsgewalt wachen, die rechtsprechende Gewalt.

Die Einführung von Verfassungen schränkte die Befugnisse der Legislative ein. Nicht jedes Gesetz ist verfassungsgemäß. So wurde die „alte Frage“ um eine Fragestellung erweitert: Wer aber soll entscheiden, wann die Legislativgewalt richtig ausgeübt wird?

Hierzu ein Mitverfasser des Grundgesetzes: „…Es ergibt sich für uns deshalb die besondere Pflicht, die verbleibenden Grundrechte besonders zu schützen. Sie dürfen daher gesetzlich nicht beschränkt werden. Sie bedürfen durch eine unabhängige Rechtsprechung des besonderen Schutzes gegen Übergriffe, insbesondere gegenüber der Legislative durch einen unabhängigen Verfassungsgerichtshof, gegenüber der Exekutive durch die Einrichtung der Verwaltungsgerichte……“ (Zitat: Dr. Hans-Christoph Seebohm in der Sitzung des Parlamentarischen Rates vom 9. September 1948).

Udo Hochschild

 

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